Geschichte der Selbsthilfe

Nicht über, sondern mit uns reden! – Der lange Kampf der Selbsthilfe gegen Stigmatisierung und für mehr Partizipation

Von Wolfgang c. Goede

Mit den Anonymen Alkoholikern fing alles an

Die Wurzeln der Selbsthilfebewegung in Deutschland gehen auf die 1950er Jahre zurück. In einem Land, das kaiserlich-wilhelminisch geprägt war, in dem während der Nazi-Herrschaft der Führer- und Befehlskult gleichsam zur gesellschaftlichen DNA wurde – welcher im stalinistisch geprägten Kommunismus in Ostdeutschland bis zur Wende fortbestand –, in dieser autoritären BRD brachen die ersten Knospen des Selbsthilfegedankens auf, importiert wie so vieles damals aus den Vereinigten Staaten mit ihrer ausgeprägten Demokratiekultur im Zivilleben.

GIs brachten den Gedanken der Anonymen Alkoholiker (AA) ins westliche Nachkriegsdeutschland. Die Alkoholkrankheit, ein zerstörerischer körperlicher und sozialer Dämon, ließ sich gemeinschaftlich bekämpfen. Das stieß neues Denken an.

Dann, in den unruhigen 1960er Jahren, wurde das Selbsthilfefundament gelegt. Eltern behinderter Kinder schlossen sich zusammen, um eine Art Lobby zu gründen, wobei der Contergan-Skandal eine wichtige Rolle spielte. Die Studentenproteste, der Aufstand gegen altes nationalsozialistisches Gedankengut, das Entlüften des „Muffs von tausend Jahren“ erweckte in den 1970ern unzählige soziale Bewegungen zum Leben: Bürgerinitiativen auf kommunaler Ebene, die Umweltbewegung, die Frauenbewegung,  die Schwulen- und Lesbenbewegung und eben auch die Selbsthilfebewegung, getragen von Menschen mit körperlichen und psychischen Erkrankungen bzw. dauerhaften Behinderungen.

Patienten: vom verwalteten Objekt zum beteiligten Subjekt

Auf einer Welle des Misstrauens gegen Autoritäten und „Old School“, professorales Gehabe und Halbgötter in Weiß, mit dem Aufbruch zu neuen Horizonten, etablierte sich eine immer mehr an Profil gewinnende Selbsthilfebewegung. Deutschlandweit sind es inzwischen zehntausende von Selbsthilfegruppen, großteils im psycho-sozial-gesundheitlichen Sektor, oft unter dem Dach bundesweiter Organisationen, wie der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (DAG SHG) oder der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS).

Das alles ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte, graswurzelmäßig von unten nach oben gewachsen. Es hat das Land verändert, hat Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen lassen. Praxis- und Erfahrungsexperten aus der Selbsthilfe sind zu Partnern von akademischen Fachexperten geworden, bilden mit ihnen Tandems in der Behandlung und Prophylaxe von Krankheiten. Der Patient wurde von einem verwalteten Objekt zu einem beteiligten Subjekt. Hierarchien sind flacheren Pyramiden und mehr Mitbestimmung gewichen.

Empowerment: Von der Fremdhilfe zur Selbsthilfe

Das Zauberwort hinter der Selbsthilfebewegung heißt Empowerment, und ist, wie der englische Name schon verrät, ebenfalls ein Import aus den USA. Empowerment bedeutet „Ermächtigung“, „Befähigung“, und meint ganz allgemein die Ermächtigung von Menschen zur Wahrnehmung ihrer Interessen, zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten in einem selbstbestimmten Prozess ohne Einflussnahme von außen. Das Empowerment-Konzept geht von einem optimistischen Menschenbild aus: Demnach verfügt jeder Einzelne über die nötigen Stärken (Ressourcen, Kompetenzen), sein Leben in seinem Sinne eigenständig zu gestalten. Es gilt, diese Stärken zu aktivieren bzw. zurückzugewinnen.

Empowerment betont zwei Wirkkräfte: das Selbst und das „Gemeinsam“. Jeder Mensch – auch der kranke und belastete – ist in der Lage, einen Zustand des subjektiven Wohlbefindens zu erreichen. Es wird weniger auf die Defizite und Probleme geschaut, als vielmehr auf die vorhandenen Ressourcen der Bewältigung. Empowerment fördert einen neuen Gesundheitsbegriff: Gesundheit als zufriedenstellende Entfaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden. Und dieses Ziel kann jeder selbst erreichen. Er benötigt dazu keine Autoritäten oder Experten bzw. tritt als Laie dem Experten auf Augenhöhe gegenüber. Er hilft sich selbst: Selbsthilfe statt Fremdhilfe.

Diese Selbsthilfe ist ein gemeinsames Produkt. Menschen, die an einem gemeinsamen Problem (wie einer psychischen Krankheit) leiden, kommen zusammen, stärken sich gegenseitig und suchen gemeinsam einen Weg, ihre Probleme zu überwinden und sich ihres eigenen Lebens wieder zu bemächtigen.  Von daher war Gruppenarbeit von Anfang an das natürliche Instrument aller Selbsthilfearbeit.

Gemeinsam Stigmatisierung und Vorurteile bekämpfen

Bisher Verborgenes, ja Verschwiegenes öffentlich zu machen und in die Gesellschaft zu tragen, Vorurteile und Stigmatisierungen zu bekämpfen, ist ein wesentlicher Antrieb und bleibender Verdienst der Selbsthilfebewegung. So wurde die Krebsbehandlung und -vorsorge erst dann zur gesellschaftlichen Priorität, als in den 1970er und 1980er Jahren Brustkrebspatientinnen sich zu Selbsthilfegruppen zusammenschlossen, wichtige Informationen austauschten und gemeinsam für eine verbesserte Betreuung kämpften. Damit brachten sie das mit der Erkrankung verbundene Stigma zum Wanken.

Ein weiterer Motor der Selbsthilfe war die Schwulenbewegung. Als Mitte der 1980er Jahre AIDS zum Thema wurde, waren es hauptsächlich homosexuelle Männer, die sich zu „Advocacy Gruppen“, Anwälten ihrer selbst, zusammenschlossen und für eine vernünftige AIDS-Politik in Deutschland sorgten: Aufklärung und Beratungsmöglichkeiten, vorurteilsfreie medizinische Behandlung von HIV-Erkrankten, keine Zwangstests u.a. Heute bedeutet eine HIV-Infektion nicht mehr automatisch das Todesurteil.

Selbsthilfe ist „die vierte Säule des Gesundheitssystems“

Heute gilt die Selbsthilfe als die vierte Säule des Gesundheitssystems, neben niedergelassenen Ärzten, klinischer Versorgung und öffentlichem Gesundheitsdienst, das heißt vor allem Beratungsstellen. Sie hilft Geld sparen. Daher wird die Selbsthilfe heute auch von den Krankenkassen mit nicht unerheblichen Zuschüssen unterstützt.

Hat die Selbsthilfe damit alles erreicht? Keineswegs! So geht vielen die Inklusion von Behinderten viel zu langsam voran. Barrierefreiheit heißt nicht nur abgesenkte Bordsteine oder rollstuhltaugliche Toiletten, sondern z.B. auch leichter verstehbare Texte in öffentlichen Verwaltungen für Menschen mit Leseschwäche. Erfreulich ist, dass die Uni Freiburg die erste Professur zur Erforschung der Selbsthilfe eingerichtet hat. Wird sie neue Konzepte hervorbringen?

„Peer Coaching“  statt „Selbsthilfe“?

Auf Selbsthilfekonferenzen ist immer wieder zu hören, dass Selbsthilfe in die Jahre gekommen sei, bei jungen Leuten allein das Wort als altmodisch in Verruf stehe und Stuhlkreise uncool seien. Wäre „Peer Coaching“ womöglich nicht zackiger als Selbsthilfe, „mentale Gesundheit“ für den seelisch-psychischen Komplex nicht eleganter und international anschlussfähiger? Selbsthilfe, will sie bei der gesellschaftlichen Fortentwicklung weiterhin mitwirken, muss sich methodisch sortieren und neu aufstellen, womöglich so wie Start-ups eigene Gesundheits-Apps entwickeln, Antworten auf den Vormarsch künstlicher Intelligenz finden.

Selbsthilfe drängt in die politische Arena

Patienten wollen heute ein aktiver Teil der Interaktion von Ärzten, Forschung, Pharmazie sein. „Nicht über uns, sondern mit uns sprechen!“, verlangen sie. Der mündige Patient und Gesundheitsbürger will in neue Entwicklungen bei Medikamenten stärker einbezogen werden, verlangt mehr Mitsprache in Entscheidungsgremien, auch denen der Ärzte, wo er über wichtige wissenschaftliche und gesundheitspolitische Entscheidungen genauso mit abstimmen will wie über Geldströme und Haushalte. Nach einem guten halben Jahrhundert setzen die Selbsthelfer zu ihrem politischen Coming-Out an.