Warum wir Angst haben

„Mir ginge es viel besser, wenn ich keine Angst mehr hätte!“ Das mag sich wohl jeder schon einmal gedacht haben. Angst ist das unangenehmste aller Gefühle. Angst scheint uns in unserem Tatendrang nur zu hemmen. Also, wozu soll sie gut sein?

Was der Säbelzahntiger mit meiner Angst zu tun hat

Das Herz rast, die Atmung geht schneller, die Hände zittern, der Angstschweiß rinnt über Stirn und Hals, manch einem wird übel oder schwindlig – so fühlt sich Angst an. Jeder kennt dieses Gefühl, es ist äußerst unangenehm. Von allen negativen Emotionen – Angst, Wut, Trauer, Ekel – ist Angst wohl diejenige, die man am schnellsten wieder los werden möchte.

Und genau darin besteht ihr tieferer Sinn. Die Angst ist so unangenehm, weil sie uns zum sofortigen Handeln antreiben möchte. Nicht umsonst kommt das Wort „Emotion“ von lateinisch emovere = hinausbewegen. Angst verspüren wir immer dann, wenn eine Gefahr auftritt, die uns unmittelbar bedroht und wir unmittelbar handeln müssen. Etwa dann, wenn wir auf den berühmten Säbelzahntiger stoßen, der in so vielen Texten über Angst auftaucht. Nach der Häufigkeit seiner Erwähnung muss der an jeder Ecke gelauert und unsere armen Vorfahren ununterbrochen in Angst und Schrecken versetzt haben. Aber dann ist der Säbelzahntiger ausgestorben, die Menschen haben überlebt. Offensichtlich hat sie die Angst vor dem großen Fressen bewahrt.

Was passiert mit uns, wenn plötzlich die Raubkatze hinter dem Baum auftaucht? Sofort fährt unser Körper die Alarmreaktion (oder Stressreaktion) hoch: Der Herzschlag wird schneller, um mehr Blut zu pumpen. Die Atmung beschleunigt sich, um die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff zu erhöhen. Die Muskeln werden angespannt, die Schweißproduktion erhöht, im Moment unwichtige Systeme (wie Verdauung, Immunabwehr) stellen ihre Arbeit ein.

Das alles hat den Zweck, den Körper auf die Begegnung mit der Gefahr vorzubereiten. Andererseits sorgt die Angst dafür, dass wir mental schlagartig hellwach sind, alle Aufmerksamkeit auf die Gefahrenquelle fokussieren (Aufreißen der Augen) und uns möglichst schnell ein angemessenes Bild von der Lage machen. Die Angst aktiviert also nicht nur unseren Körper, sondern auch unser Denken und unsere Entscheidungsfähigkeit.

Die Alternativen: Flucht oder Kampf

Und wofür entscheiden wir uns? Kommt drauf an, könnte man sagen. Beim Säbelzahntiger oder bei Naturgewalten (Feuer, Wasser) ist wohl die Flucht die schlaueste Verhaltensweise. In anderen Fällen dagegen, wenn etwa ein Konkurrent meine Nahrungsreserven stehlen oder sich an meinen Partner ranmachen will, ist der Kampf gegen den Eindringling die bessere Wahl (jedenfalls, wenn er nicht zu groß ist).

Wie auch immer ich mich entscheide, für Flucht oder Kampf – in beiden Fällen ist der Körper durch die blitzschnell eingeleitete Alarmreaktion vorbereitet, steht die notwendige Energie zum Handeln zur Verfügung. Die Angstreaktion ist also ein von der Natur eingerichteter sinnvoller Vorgang, der uns hilft, gefährliche Situationen zu bewältigen. Es ist ein weit in der Evolution zurückreichender Mechanismus, der sich bei allen höheren Tieren findet.

Die Nachfahren der Angsthasen

Was objektiv in unserem Körper abläuft, empfinden wir subjektiv als Angst oder Furcht. Die Symptome der Angst entstehen entweder direkt aus den bei der Alarmreaktion ablaufenden Körpervorgängen (so z.B. Herzrasen, Schwitzen, Atemnot, Übelkeit, Mundtrockenheit) oder resultieren aus der zwar aktivierten, aber noch nicht verbrauchten Energie im Körper (Zittern, Kribbelgefühle, Schwindel, Ohnmachtsgefühle).

Doch warum ist die Angst ein so starkes Gefühl? Eben weil es hier wirklich um etwas geht, nämlich um Leben und Tod – jedenfalls bei der Begegnung mit dem Säbelzahntiger. Bei anderen Emotionen ist dies nicht der Fall – bei Ekel, Freude, Trauer – daher sind diese Gefühle im Allgemeinen nicht so stark, höchstens Liebe kann sich noch mit der Angst vergleichen. Hinzu kommt: Alle Frühmenschen, die nicht so ein starkes Angstgefühl hatten und auch mal den Kampf mit dem Tiger gewagt haben, sind kaum lebend davongekommen und haben ihre „angstfreieren Gene“ nicht weitergegeben. Wir heute lebenden Menschen sind die Nachfahren derjenigen, die, von großer Angst angetrieben, geflüchtet sind. Wir sind die Nachfahren der Angsthasen.

Furcht und Befürchtung

Neben der Alarmreaktion, die uns blitzschnell auf Kampf oder Flucht in einer aktuellen Gefahrensituation vorbereitet, hat Angst noch eine weitere Funktion: Sie dient dem Erlernen von Gefahren und damit deren zukünftiger Vermeidung. Kommen wir in eine bedrohliche Situation und empfinden dabei Angst, dann verknüpft unser Gehirn die Reize der Situation mit dem Angstgefühl und speichert dies im Gedächtnis ab. Bin ich z.B. schmerzlich von einem Hund gebissen worden, dann werde ich in Zukunft nicht nur Angst haben, wenn ich einen Hund direkt vor mir sehe, sondern schon bei dem Gedanken, dass an einem bestimmten Ort eventuell ein Hund auftauchen könnte. Ich empfinde die Furcht schon im Voraus, ich habe also die „Befürchtung“, dass eine bestimmte Situation gefährlich werden könnte.

Diese Befürchtung fühlt sich an, wie die Furcht selbst, denn in beiden Fällen läuft das Alarmprogramm an. Dabei gilt der Grundsatz: Je intensiver das ursprüngliche Angstgefühl war, desto stärker wird auch die Befürchtung vor ähnlichen Situationen sein.

Als Folge der Befürchtung wird sich mein Verhalten ändern. Ich werde von vorneherein alle Orte vermeiden, an denen sich Hunde aufhalten, ja selbst wenn ich dort nur welche vermute, ohne es genau zu wissen, mache ich einen Bogen herum. Vorsicht ist besser als Nachsicht! Mein Verhalten wird vorsichtiger. Vor-sicht ganz wörtlich genommen: Ich versuche, vorzusehen, vorauszusehen, was sein könnte und vermeide potenziell gefährliche Orte oder Situationen. Und auch hier gilt: Je stärker die ursprüngliche Angst, desto stärker die Vorsicht und das Vermeidungsverhalten.

Es zeigt sich also: Die Angst erfüllt zwei wichtige Funktionen in unserem Leben:

  • in der Gefahrensituation ermöglicht sie ein schnelles und aktives Handeln (Alarmreaktion)
  • im Alltag warnt sie uns als Befürchtung vor potenziellen bedrohlichen oder ungewissen Situationen, denen wir entweder ganz aus dem Weg gehen oder mit erhöhter Vorsicht begegnen (Warnsignal).

Die Steinzeit ist vorbei – was nun?

Die Erzählung vom Säbelzahntiger ist deswegen so unsinnig, weil wohl die allerwenigsten unserer Vorfahren einem Säbelzahntiger live begegnet sind. Der Säbelzahntiger steht für einen Angriff auf unsere körperliche Unversehrtheit. Sicherlich eine große Gefahr. Aber hatten nicht schon unsere Vorfahren in der Steinzeit – ebenso wie wir heute – ganz andere Gefahren zu fürchten? Etwa einen Angriff auf ihre sozialen Beziehungen, auf den sozialen Status oder auf die psychische Integrität (durch Beleidigung, Mobbing u.a.)? Solche Bedrohungen kamen nicht von einer gnadenlosen Natur, sondern von missgünstigen oder einfach nur konkurrierenden Artgenossen. Und ihnen kann man weder mit Flucht noch mit Kampf (im wörtlichen Sinne) sinnvoll begegnen. Ich kann vor einem aggressiven Kollegen weder davonrennen, noch ihn niederschlagen.

Des Weiteren gibt es Bedrohungen im Leben, die nicht auf einen Angreifer zurückzuführen sind, sondern einfach durch Verlust entstehen: der Verlust von Gesundheit, von Mitmenschen und deren Zuneigung, von Anerkennung, von Lebensmöglichkeiten, letztlich der unvermeidliche Verlust des Lebens selbst. Auf alle diese Bedrohungen reagieren wir mit Angst, aber gegen wen sollen wir da kämpfen, vor was flüchten? Heute ebenso wie in der Steinzeit sind andere Bewältigungsstrategien gefragt. Was hat also die Angst heute noch für einen Sinn?

Angst als Wegweiser

Wir leben heute nicht mehr in der rauen Natur, körperliche Gefahren haben wir kaum noch zu fürchten, dagegen Bedrohungen sozialer und psychischer Art. Doch auch bei diesen Bedrohungen ist es sinnvoller, von Aufgaben zu sprechen, die man lösen muss. Aufgaben, die das Leben einem stellt. Und hierbei ist die Angst durchaus noch von Nutzen. Sie zeigt uns auf, wo Verluste drohen und ungelöste Probleme liegen. Ohne Angst würden wir vielleicht sorglos in den Tag leben und nicht für später vor-sorgen. Erst die Sorge, das Brot könnte aus sein, bringt uns dazu, jetzt statt kurz vor Ladenschluss zum Bäcker zu gehen. Ohne Angst durchzufallen, würden wir nicht auf Prüfungen lernen. Ohne Angst, an Ansehen zu verlieren, würden wir unsere Arbeiten nicht gut erledigen. Ohne Angst vor dem Alleinsein würden wir uns um keinen Partner bemühen. Die Angst treibt uns an, Probleme zu lösen und das Leben zu erreichen, das wir wollen.

Das ist die sinnvolle Seite der Angst. Dass die Alarmreaktion dabei heute kontraproduktiv sein kann und zu viel Stress verursacht, mag stimmen. Ein Grund mehr, dieses Gefühl nicht auszublenden, sondern einen konstruktiven Umgang mit ihm zu erlernen. Das gilt individuell genauso wie gesellschaftlich!