Wie Angststörungen entstehen – Teil I: Der Teufelskreis der Angst
Angst – jeder kennt dieses unangenehme Gefühl. Angst ist eine unserer fundamentalsten Emotionen. Sie tritt immer dann auf, wenn Gefahr droht. Dann warnt uns die Angst und zugleich stimuliert sie unsere Kräfte – physische ebenso wie mentale – um die Bedrohung abzuwenden. Denn ihre Aufgabe ist es, uns vor dauerhaftem Schaden zu bewahren.
Doch manchmal gerät dieses, an sich sinnvolle, Gefühl aus den Fugen. Normalerweise ebbt die Angstreaktion ab, wenn die Gefahr vorüber ist, die bedrohliche Situation erfolgreich bewältigt wurde oder bewältigbar erscheint. Die Anspannung lässt nach, Körper und Gedanken beruhigen sich wieder. Es gibt jedoch Menschen, bei denen es nicht zu einer Beruhigung kommt, sondern dauerhaft eine Anspannung, ein Angstgefühl bestehen bleibt. Ein Angstgefühl, das der Gefahr nicht angemessen ist. Was ist der Grund für diese Fehlentwicklung?
Die Angststörung – eine aus dem Gleichgewicht geratene Angstreaktion
Wenn ein bedrohlicher Reiz, eine Gefahr auftaucht und in unser Bewusstsein dringt, schlägt das Gehirn Alarm und setzt die Angstreaktion in Gang. Doch was genau ist eine „Gefahr“? Gefahr ist keine objektive Größe, sondern hängt von zwei Faktoren ab: Von der persönlichen Einschätzung der Bedrohlichkeit der Situation und von der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, damit fertig zu werden. So mag für den einen eine Präsentation vor Publikum oder ein neuer Job in einer fremden Stadt eine interessante Herausforderung sein, für den anderen ist sie dagegen mit Angst verbunden, weil er sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlt – zwei unterschiedlich Einschätzungen derselben Situation. Am Beginn der Angstreaktion steht also die subjektive Einschätzung, was als Gefahr zu werten ist.
Was geschieht nun mit dieser Person, die die Situation als Bedrohung erlebt? Wahrscheinlich befürchtet der Betroffene, nicht genug Kompetenzen zu besitzen, um mit der Aufgabe fertig zu werden. Negative Gedanken gehen ihm durch den Kopf wie „Ich schaff das nicht!“ oder „Das ist mir zu viel!“ In Gedanken malt er sich aus, was alles passieren könnte. Die Gedanken verstärken also die erste schnelle Einschätzung einer Bedrohung. Und auf diese Bedrohung antwortet der Körper, wie es sich gehört, mit einer Alarmreaktion: Er aktiviert den Angstmechanismus, um auf die Bedrohung angemessen reagieren zu können. Diese innerliche Anspannung wird nun von dem Betroffenen wahrgenommen, er spürt, dass er erregt, nervös, zittrig ist, was ihm zeigt, dass offensichtlich eine große Gefahr besteht. Doch auf die Schnelle findet er keine Lösung der Situation und das treibt wiederum die negativen Gedanken an. Die Befürchtungen und Selbstzweifel wachsen, die Phantasie zeichnet immer eindringlichere Bilder des Scheiterns, die Bedrohlichkeit der Situation wird so immer größer. Auf diese Weise schaukeln sich die Angstgefühle und die Angstgedanken in einem sich selbst verstärkenden Prozess gegenseitig hoch – ein Teufelskreis beginnt.
Gelingt es nun dem Betroffenen nicht, aus diesem Kreislauf von Angstgefühlen und Angstgedanken auszusteigen und sich selbst zu beruhigen (körperlich ebenso wie mental), führt dieser dauerhaft angespannte Zustand früher oder später zu negativen Konsequenzen. Physisch kommt es zu innerer Unruhe, zu Gereiztheit, gleichzeitig zu schneller Erschöpfung, zu Schlafstörungen, Verspannungen, Kopfschmerzen u.a. (funktionelle Störungen). Psychisch wird die vermeintliche Bedrohung irgendwann als riesengroß und übermächtig empfunden und Gefühle von Überforderung, Ohnmacht und Kontrollverlust treten auf. Der Betroffene fühlt sich dem Geschehen gegenüber völlig hilflos, wie ausgeliefert, sieht keine geeigneten Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten mehr. Er sieht sich außerstande, mit der Situation zurecht zu kommen, weiß nicht mehr weiter.
Am Beginn des Teufelskreises steht die Wahrnehmung einer Belastungssituation, die als Bedrohung empfunden und bewertet wird. Daraus entsteht die Angst, wobei sich Angstgedanken und Angstgefühle gegenseitig antreiben und schließlich ein Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlusts erzeugen. Reagiert nun der Betroffene mit Vermeidung wird sich die Angst nicht mindern, sondern es kommt im Gegenteil zu unrealistischen Verzerrungen bei der Wahrnehmung der äußeren Gefahr und der Einschätzung der eigenen Angst. Eine neue Runde des Teufelskreises beginnt.
Vermeidung hält den Teufelskreis aufrecht
Wichtig ist: Jeder Mensch kann in den Teufelskreis der Angst geraten, denn niemand ist auf alle Eventualitäten des Lebens vorbereitet. Jeder kann Situationen erleben, die ihn überfordern und hilflos machen. Eine solche Belastungssituation ist noch kein krankhafter Zustand. Doch an dieser Stelle des Teufelskreises findet nun eine entscheidende Weichenstellung statt: raus aus der Abwärtsspirale oder weiter hinein. Tatsächlich schaffen es die meisten Menschen, solche Situationen mit der Zeit durch eigene Maßnahmen oder mit Hilfe anderer (Freunde, Familie) in den Griff zu kriegen und die Kontrolle wieder herzustellen. Es gelingt ihnen, neue Kräfte und Ressourcen zu mobilisieren. Doch nicht alle schaffen das. Dann wird die akute Belastung zum chronischen Dauerzustand, hält die Anspannung und Angst über Wochen und Monate an, ohne dass es zu einer Lösung kommt – der Beginn einer Angststörung.
Warum schaffen es manche Menschen nicht, den Teufelskreis der Angst zu durchbrechen und entwickeln eine krankhafte Angst? Der Grund dafür heißt Vermeidung. Wenn das Angstgefühl zu heftig, die Angstgedanken zu unerträglich werden, dann ist Flucht die einfachste Form, die Angst loszuwerden. Ich werde also die Präsentation mit irgendeiner Ausrede absagen und den angsteinflößenden Job nicht annehmen. Diese Vermeidung schafft kurzfristig Erleichterung und gibt oft sogar ein gutes Gefühl. Doch langfristig verstärkt die Vermeidung die Angst. Denn wer vor der Angst davonläuft, macht nicht die Erfahrung, dass das befürchtete Katastrophenszenario nicht eintritt und die Angst auch nicht zum physischen Kollaps führt (wie manche Panikbetroffene meinen).
Statt dessen passiert das Gegenteil: Die Betroffenen konzentrieren sich übermäßig auf die bedrohliche Situation, Grübeln ständig über potenzielle Gefahren oder negative Folgen, überschätzen massiv das Auftreten eines bestimmten Ereignisses und bleiben in der Erwartung einer Bedrohung gefangen. Auf diese Weise wird die ursprüngliche negative Bewertung einer Situation weiter aufrechterhalten und verstärkt und mit ihr auch die Angst. Da die positive Erfahrung unterbleibt, wird sich die Angst in der Vorstellung des Betroffenen immer mehr zu einem unbeherrschbaren „Monster“ entwickeln, über das keinerlei Kontrolle möglich ist. Es ist die Vermeidung, die den Teufelskreis der Angst am laufen hält und schließlich zu einer Angststörung führt.
Eine Angststörung ist somit ein zum täglichen Begleiter gewordenes Gefühl der Angst. Das Grundgefühl des Betroffenen ist: Die Gefahr ist riesig und ich bin ihr nicht gewachsen. Ein dauerhafter Kontrollverlust ist eingetreten – nicht mehr der Mensch kontrolliert die Angst, sondern die Angst kontrolliert ihn und bestimmt sein Leben.
Physische Verfestigung
Bis dahin, könnte man sagen, bewegt sich die „Störung“ noch im gedanklich-emotionalen Bereich. Doch bleibt es nicht dabei. Besteht eine einmal ausgebildete Angststörung über längere Zeit unverändert fort, hat dies auch Auswirkungen auf unseren Körper. Wie beschrieben kommt es mit der Zeit zu physischen Folgen der Angst wie Unruhe, Erschöpfung, schlechter Schlaf u.a. (funktionelle Störungen). Und diese Folgen verstärken sich, wenn die dauerhafte Anspannung und Angst bestehen bleiben. Denn unser Körper ist plastisch, veränderlich, er stellt sich auf Zustände, die dauerhaft so bleiben, ein. Werden z.B. die Füße ständig belastet, bilden sich dort Verhärtungen (dicke Hornhaut). Rechtshänder, die die rechte Hand aktiver gebraucht als die linke, entwickeln dort stärkere Muskeln.
Dieselbe Reaktion gilt für den psychischen Bereich: Ist das Stresslevel dauerhaft hoch, erlebt ein Mensch immer wieder Angstzustände, verändert dies mit der Zeit Nervensystem und Gehirn. Der Körper stellt sich auf eine Umwelt ein, die anscheinend dauerhaft bedrohlicher geworden ist. So springt der Alarmzustand noch schneller an, das Anspannungsniveau bleibt ständig auf einem höheren Level als bei anderen Menschen. Es kommt zu neurobiologischen Veränderungen: Die Störung verfestigt sich biologisch, sie „materialisiert“ sich in physischen Veränderungen des Gehirns (z.B. einer Vergrößerung der Amygdala, also des Angstzentrums) wie des Nervensystems (z.B. bei den Hormonen, den Neurotransmittern, den Rezeptoren der Nervenzellen u.a.). Damit wird der Teufelskreis der Angst physisch verfestigt, was sein Durchbrechen wiederum noch schwieriger macht. Aus der anfänglichen Störung der Angstreaktion ist eine Angsterkrankung geworden.