Ängste am Arbeitsplatz

Ein Erfahrungsbericht 

ES IST JETZT über ein halbes Jahr her, dass ich meinen Job als Architekt verloren habe. Zwanzig Jahre habe ich in diesem Beruf gearbeitet und es waren zwanzig Jahre mit Angst – mal mehr, mal weniger. Sicherlich ist Angst immer etwas individuelles, geprägt von der eigenen Lebensgeschichte. Aber ich bin heute mehr denn je davon überzeugt, dass die Bedingungen in unserer Arbeitswelt nichts dazu beitragen, die Ängste der Menschen zu reduzieren. 

IM HAMSTERRAD 

Die meisten Architekten arbeiten am Anfang ihres Berufslebens als Scheinselbstständige. Sie sind zwar selbstständig, arbeiten aber de facto nur für ein Architekturbüro. Auf diese Weise umgehen die Arbeitgeber die sozialen Sicherungssysteme (Kranken-, Rente-, Arbeitslosenversicherung) und sparen sich so viel Geld. Doch die Beschäftigten setzt dies ziemlich unter Druck. Viele Architekturbüros sind kleinere und mittelgroße Büros, die einen  permanenten Durchlauf an Projekten haben müssen, damit sich das Geschäft trägt. Stoppt mal irgendwas oder wird ganz abgesagt, hat das sofort Konsequenzen, vor allem für die Scheinselbstständigen. Wenn die ihren Job verlieren, bekommen sie kein Arbeitslosengeld, können vielleicht noch den notwendigen Mindestbeitrag für die Krankenkasse bezahlen, aber können nichts für die Rente zurücklegen, weil sie ja auch Miete bezahlen müssen. Und die ist in einer Stadt wie München sehr hoch.  

Aus diesem Grunde arbeiten Scheinselbstständige oft wie verrückt, um ihren Job zu behalten. Manche arbeiten bis spätabends und auch am Wochenende, und wenn sie Pech haben, war trotzdem alles umsonst. Mir ist es am Anfang meines Berufslebens mehrmals passiert, dass ich pausenlos geschuftet habe und am Ende dann trotzdem gekündigt wurde. Am Anfang wehrt man sich noch nicht mal so richtig, nimmt es einfach hin. Bei mir speziell kommt noch hinzu, dass ich mich nie als besonders selbstbewusst gesehen habe, mir kann man leicht Angst einjagen. Aber unabhängig von meiner eigenen Situation sind es Bedingungen, die einfach menschenunwürdig sind.  

Die Angst arbeitet quasi ständig mit, ist die ganze Zeit im Hintergrund präsent. Man hat Angst, den Job zu verlieren, keinen guten Lebenslauf zu haben. Man hat Angst, in eine existenzgefährdende Situation zu geraten oder im Alter keine Rücklagen mehr zu haben. Und so treibt einen die Unsicherheit und die Angst immer weiter an. Leider ist das nicht nur bei Architekten so, auch bei vielen sozialen Berufen oder bei wissenschaftlichen Mitarbeitern, überall, wo es finanziell prekär aussieht und die Konkurrenz groß ist  – da ist man dauernd mit solchen Existenzängsten beschäftigt.  

Und die Chefs nützen das aus. Ich habe unglaublich cholerische Chefs erlebt. Da gab es einen, der hat dir die Sachen hingeknallt und du musstest es einfach schlucken. Eine echte Diskussion war nicht möglich. Ein anderer hat lange Monologe geführt und dir bis ins Kleinste erklärt, wie du deine Arbeit zu machen hast. Da hat man nicht das Gefühl, etwas allein gestalten und entscheiden zu können. Mir ist schon klar, dass auch die Chefs unter Druck stehen und Angst haben, das Projekt in den Sand zu setzen. Aber mit einem derartigen Führungsstil von oben herab erzeugen sie nur Frustration und bewirken letztlich das Gegenteil. 

Doch das Schlimmste ist, die Mitarbeiter nehmen es als gottgegeben hin. Sie sagen nichts, passen sich an, wollen nicht auffallen, manche biedern sich richtiggehend an. Aber niemand denkt daran, grundsätzlich etwas zu ändern. Ich verstehe, dass die Leute froh sind, wenn sie ihr Alltagsgeschäft hinter sich gebracht haben, und danach keine Energie mehr haben. Ich bin abends, nach 9 oder 10 Stunden Arbeit, auch erledigt und will nichts mehr hören und sehen. Aber damit ändert man nichts an den Bedingungen. 

Das ist das Problem an diesem gesamten System: Alle sind Einzelkämpfer, sowohl die Chefs wie die Mitarbeiter. Und genau das trägt dazu bei, dass alle überfordert sind, Angst haben und pausenlos in der Defensive stehen. Die Chefs haben Angst gegenüber den Bauherrn und die Mitarbeiter haben Angst gegenüber den Chefs, jeder schaut nur auf sich. Und diese Angst treibt die Leute immer weiter im Hamsterrad und sie überfordern ihre Ressourcen. 

Irgendwann kommt der Punkt, wo einfach alles zu viel wird. Dann gehen die Leute in die Knie, gerade bei den Architekten. Dauernd ist da irgendjemand krank, hat einer Burnout. Es kommt eben zu viel zusammen:  die prekäre Arbeitssituation, aber auch die Überfüllung der Städte, der Verkehrsinfarkt, weil die Leute so weit pendeln müssen, der Druck im Betrieb, ein Führungsstil, dem der Respekt vor dem Individuum  fehlt, zu wenig eigener Handlungsspielraum – alle diese Stressfaktoren spielen zusammen und steigern sich gegenseitig bis man in den Burnout rutscht. Wir sind eine echte Burnout-Gesellschaft. 

LEISTUNGSANGST 

Alles, was ich bisher geschildert habe, ist sozusagen nur das Hintergrundrauschen, vor dem sich die tägliche Angst vor der Arbeit abspielt: vor dem eigenen Versagen, vor dem Gedanken, nicht gut genug zu sein, irgendein Ingenieurwissen oder irgendwelche Kommunikationsskills nicht zu haben. Es gibt immer Leute, die sich gut verkaufen können, die aus einem Kieselstein ein Traumschiff machen, aber alle anderen sind normale Menschen, die an sich zweifeln und die die normalen Ängste des Alltags noch zusätzlich haben. Ich zum Beispiel musste mich immer überwinden, wenn ich mit anderen in Interaktion getreten bin. Ich hatte immer das Gefühl, nichts zu wissen oder jedenfalls nicht genug. Telefonate führen mit Bauherrn oder Fachplanern ist furchtbar anstrengend, wenn man nicht besonders selbstbewusst ist und Angst hat, einen Fehler zu machen. Die Arbeit im Büro war für mich eine pausenlose Selbst- 
überwindung, die ständig Energie gefordert hat. Wenn man da nicht gut aufpasst, überschreitet man irgendwann seine Grenze und überfordert sich selbst. Und diese Grenze hat jeder, denn letztlich hat jeder Angst, etwas falsch zu machen.  

Sich überwinden ist an sich nichts Schlechtes, denn das bringt einen voran, aber es muss das richtige Maß sein. Wo dieses liegt, ist gar nicht leicht zu beantworten, das muss jeder für sich selbst herausfinden. Bei mir war es so, dass ich schon in der Schulzeit gut sein wollte, aber wahrscheinlich habe ich damals schon zuviel von mir gefordert, habe nicht auf mich gehört. Das wäre eine der wichtigsten Sachen, die man in der Schulzeit lernen müsste, auf sich zu hören, aber das findet leider nicht statt. Schon in der Schule geht es darum, Leistung zu erbringen: Ich muss meine Hausaufgaben machen, für Klausuren lernen, ich brauche diesen Notendurchschnitt, um auf die Uni gehen zu können usw. Schon da fängt es an, dass man Angst hat und diesen Tunnelblick entwickelt. Und wenn man mal in diesem Tunnel drin ist, dann ist es ganz schwierig, da wieder heraus zu kommen.   

Eines der Dinge, die man als westlicher Mensch überhaupt nicht hinterfragt, ist das ständige Leistungsdenken. Man ist darauf trainiert, nicht auf sich zu achten, sondern Leistung zu erbringen. Alles, was wir in den letzten 300 Jahren an Fortschritt geschaffen haben, wurde nur vollbracht, weil man den Menschen ein Leistungsdenken eingetrichtert hat: Du bist nur gut, wenn du etwas leistet und nicht auf dich selbst achtest! Damit haben wir zugegebermaßen viel erreicht, aber womit haben wir das bezahlt? Mit Angst, mit der Angst, die Leistung nicht erbringen zu können, nicht gut genug zu sein. Das ewige Leistungsdenken impliziert ja immer auf der anderen Seite die Angst, die Leistung nicht zu schaffen. Die Kehrseite des Leistungsdenkens ist die Versagensangst.  

Der Grund für das Leistungsdenken liegt meines Erachtens darin, dass wir uns immer von außen ansehen und zu wenig von innen. Mit „von innen“ meine ich, sich selbst zu fragen, was ich möchte, wo mich meine Inspiration hinzieht, woran ich Freude habe, was ich entwickeln möchte. Statt dessen bekommt man schon durch die Eltern eine Erwartung implantiert, was man im Leben tun soll. Diesen Blick von außen übernimmt man für sich selbst statt auf seine innere Stimme zu hören. Und wenn wir die Erwartungen nicht erfüllen – die der Eltern, die der Freundin, die des Chefs – fühlen wir uns beschämt. Und so treibt uns die Angst weiter an, wir achten nicht auf unsere Grenzen, überschreiten sie und „verbrennen“ uns selbst. Ich glaube, wir unterliegen einer Art kollektiver Amnesie, dass wir das als normalen Zustand ansehen. 

PRÄVENTION IM BETRIEB 

Wie sollen wir aus diesem Zustand herauskommen? Ich glaube, in den letzten Jahren hat auch in den Architekturbüros ein Umdenken eingesetzt, denn inzwischen spricht man auch bei den Architekten von einem Fachkräftemangel. Manche Büros versuchen jetzt Gegenmaßnahmen, um den Stress der Beschäftigten zu reduzieren, ich bezweifele jedoch, dass dies strukturell wirklich etwas ändern wird.  

Im letzten Büro, in dem ich war, gab es Fortbildungen, etwa zum Thema Zeitmanagement, und für die psychische Gesundheit wurden Yoga-Stunden angeboten. Das ist dann eingeschlafen, weil sich doch nicht genug Leute gefunden haben, aber es war etwas Neues, das ich ansonsten vorher noch nie erlebt hatte. Andererseits habe ich gemerkt, dass diese Yoga-Stunden mit dem Spirituellen, das hinter Yoga steht, nichts zu tun hatten. Im Yoga geht es darum, sich selbst und die Welt zu verbessern, mehr Respekt und mehr Achtsamkeit zu erlernen. Aber ist das auch das Ziel der Firmen, die Yoga anbieten?  Oder geht es nicht vielmehr darum, die Mitarbeiter psychisch fit zu halten, um sie noch leistungsfähiger zu machen?   

Und auch diese neuen Formen der Arbeitswelt sehe ich kritisch. Dass jetzt Dinge, die Freude machen, in die Arbeit integriert werden, z.B. die Mitarbeiter eine Tischtennisplatte kriegen, das hat zwei Seiten: Es kann das Arbeitsleben angenehmer machen, aber wenn es mit einem Anspruch verbunden ist, alles soll Spaß machen und wir sind eine große Gemeinschaft, dann kann das zu einem zusätzlichen sozialen Druck führen und noch mehr Stress und Angst erzeugen.  

Ein paar Anti-Stress-Angebote oder Maßnahmen zur Verbesserung des Betriebsklimas sind besser als nichts, aber ein wirklicher Umschwung setzt nur ein, wenn wir grundsätzlich etwas ändern. Dazu zähle ich eine neue Führungskultur, in der dem einzelnen Mitarbeiter Respekt entgegengebracht wird und seine Arbeit geachtet und geschätzt wird. Zum anderen müssen wir heraus aus dem Hamsterrad, aus dem angstgetriebenen „Ich muss funktionieren und darf bloß keine Schwäche zeigen.“ Wenn wir alle zugeben könnten, dass wir nicht perfekt sind, sondern Menschen, die sich irren und Fehler machen, ohne befürchten zu müssen, als Versager zu gelten, das wäre die größte Präventionsmaßnahme gegen Burnout und Ängste am Arbeitsplatz.  

Simon