Bouldern mit der Angst

Von Karina Lakatos

Im Rahmen der Münchner Angstselbsthilfe (MASH) gibt es eine Bouldergruppe, die sich „Bouldern mit der Angst“ nennt. Die Gruppe trifft sich einmal in der Woche abends in einer Boulderhalle. Über eine Whatsapp-Gruppe wird jeweils kurz vor dem Treffen abgesprochen, wer dabei ist. Eine regelmäßige Teilnahme ist also nicht zwingend.

Nachdem ich bereits etwa ein Jahr an einer MASH-Selbsthilfegruppe teilgenommen hatte, bin ich auf die Bouldergruppe aufmerksam geworden und habe mich angemeldet. Mittlerweile bin ich seit fast drei Jahren dabei. Ich entdecke immer wieder Parallelen zwischen dem Arbeiten an einer Angststörung oder Depression und dem Bouldern. Ein paar meiner Erfahrungen und Beobachtungen möchte ich im Folgenden schildern.

Eine erste kleine Herausforderung waren die Kontaktaufnahme mit der Gruppe und das erste Treffen. Menschen, die ich nicht kenne, eine relativ neue Tätigkeit, bei der ich versagen könnte, und das unter der Beobachtung anderer? Aber ich wollte es unbedingt versuchen. Ein kleiner Trost war, dass alle Teilnehmer mit Ängsten und/oder Depression zu tun haben. Nachdem ich mich angemeldet hatte, gab es kein Zurück mehr, denn Absagen gehört zu den Dingen, die mir eher schwer fallen.

Doch es hat sich gleich gut angefühlt, an der Wand zu sein, die Tritte unter den Füßen und die Griffe in den Händen zu spüren, auch wenn mir das Bouldern anfangs nicht leicht gefallen ist. Auch habe ich mich in der Gruppe von Anfang an wohlgefühlt. Ich war froh und auch ein bisschen stolz, mich getraut und in diesem Punkt meine Ängste überwunden zu haben.

Gut für Fitness und Stimmung

Ein erster wohltuender Aspekt des Boulderns ist die sportliche Aktivität an sich. Für mich hat sie sowohl kurzzeitige als auch Langzeitwirkungen. Wie auch bei anderen sportlichen Betätigungen verspürte ich vor der Stunde oft einen (mal leichteren und mal größeren) Widerstand. Ich war meistens etwas müde, hatte das Bedürfnis, nach der Arbeit einfach nach Hause zu fahren und mich auf die Couch zu legen, und es war mir irgendwie zu viel, auch noch Bouldern zu gehen. Das ging (und geht auch heute noch) oft mit einem Gefühl einher, dass mir alles über den Kopf wächst. Auch wenn ich mich aufraffe und Bouldern gehe, kann diese Stimmung noch anhalten. Aber spätestens danach fühle ich mich beschwingt, empfinde eine angenehme körperliche Müdigkeit, die einen besseren Schlaf verspricht, und ich bin guter Dinge, dass ich schon irgendwie alles schaffen werde. Wenn ich auf dem Heimweg an der U-Bahn stehe, meine ich, einen stabileren Stand und eine aufrechtere Haltung zu haben. Das gibt mir das Gefühl, dass mich im Leben nichts so leicht umwerfen kann. Die positive Stimmung hält meistens bis in den nächsten Tag hinein an, manchmal auch länger. Mittlerweile muss ich mich nur noch selten wirklich überwinden, Bouldern zu gehen.

Längerfristig trainiert das Bouldern Kraft, Körperspannung, Balance und Beweglichkeit. Ich versuche, zusätzlich weiteren Sport zu machen. Wenn mir das gelingt, merke ich schon nach wenigen Wochen einen Unterschied. Verspannungen und Schmerzen im Rücken verschwinden, die Körperhaltung wird besser und die Körperspannung nimmt zu. Das führt bei mir zu einer zufriedeneren Stimmung, zu mehr Lebensenergie und einem besseren Selbstbewusstsein. Ob das Bouldern einmal in der Woche allein dafür ausreichen kann, weiß ich nicht, aber ich denke, dass selbst dann bei einer gewissen Regelmäßigkeit ein Effekt eintritt. Immerhin bewirkt schon eine Bouldersession bei mir, die positivere Stimmung kurzfristig hervorzurufen. Ich merke auch, dass ich am Tag darauf mehr auf eine gute Körperhaltung achte und bin wieder motiviert, mehr Sport zu machen.

Bouldern als Konfrontationsübung

Beim Bouldern kann man sich individuell dosierten Herausforderungen stellen und sich langsam an diese herantasten. Ich habe zum Beispiel etwas Höhenangst und tue mir deshalb schwer, von den Zielpunkten oder von höheren Punkten in der Boulderroute herunter auf die Matte zu springen. Ich versuche deshalb, etwas länger oben zu bleiben, um mich an die Höhe zu gewöhnen und nach und nach von immer höheren Stellen abzuspringen.

Oder man muss bei manchen Routen, ohne sich dabei festhalten, abstützen oder hochziehen zu können, auf einen relativ viel höher gelegenen Tritt steigen. Schafft man den nicht, fällt man in der Regel, weshalb ich mich oft erst mal nicht traue. Ich probiere dann, es langsam anzugehen, nur ein Stück weit hochzusteigen oder mich beim Aufstehen vorläufig an einem Griff einer anderen Route festzuhalten, um ein Gefühl für den Abstand und das Gleichgewicht zu bekommen. Man kann sich beim Bouldern also gut ein einzelnes, abgrenzbares Problem herausnehmen und nur daran arbeiten. Das ist eine Strategie, die ich auch bei Ängsten und Sorgen anwenden kann. Wenn mir eine Aufgabe nicht bewältigbar oder eine Angst unüberwindbar erscheint, versuche ich, mit einem kleinen Teil oder einem ersten kleinen Schritt anzufangen, mich langsam heranzutasten und mich an das, was mir Angst macht, zu gewöhnen.

Der Vergleich mit anderen und die Angst vor dem, was andere über mich denken, hat meinen Alltag lange erheblich bestimmt und ist auch weiterhin ein wichtiges Thema. Eine gute Übung ist es deshalb, auch dann, wenn viele Menschen an den Wänden stehen und ich das Gefühl habe, dass fast jeder besser ist als ich, mich das Bouldern trotzdem zu trauen. Ich versuche, daran zu denken, dass jeder mit anderen Voraussetzungen bouldert. Und ich versuche es auszuhalten, dass andere mich sehen und bewerten können. Negative Kommentare habe ich übrigens bisher nicht gehört. Vielmehr passiert es immer wieder mal, dass auch Menschen, die nicht zur Gruppe gehören, Tipps geben und helfen.

Im Moment sein

Anspruchsvollere Routen, bei denen man beispielsweise langsam und kontrolliert balancieren oder die Füße präzise auf winzigen Tritten platzieren muss, erfordern volle Konzentration. Man schafft sie nur, wenn man sich voll und ganz auf das Bouldern konzentriert, jeden Schritt im Voraus plant und jede Bewegung bewusst macht. Man muss also im Moment sein und kann dabei nicht an andere Dinge denken. Wenn mir diese Konzentration gelingt, schalte ich ab. Auch wenn das nur für kurze Zeit ist, tut es mir enorm gut. Denn ich neige sehr zum Grübeln und bin die meiste Zeit unkonzentriert, weil sich in meinem Kopf im Hintergrund alles Mögliche abspielt, ich entweder alles und alle um mich herum auf jede Regung hin wahrnehme und analysiere oder mich wegträume. Im Moment zu sein, macht mich glücklich.

Das Bouldern erinnert mich immer wieder daran, dass keine Entwicklung geradlinig verläuft. Es gibt Tage, an denen klappt es einfach nicht so gut. Nach Pausen benötige ich Zeit, mich wieder an das Bouldern zu gewöhnen. Nach den ersten Fortschritten wird es schwerer, besser zu werden und über ein gewisses Anfängerniveau hinauszukommen. Fortschritte sind nicht mehr so gravierend und deutlich. Wenn ich merke, es läuft nicht so gut, oder ich das Gefühl habe, keine Fortschritte zu machen, versuche ich, mich darauf zu besinnen, was mir am Bouldern Spaß macht und es zu akzeptieren, dass es gerade nicht so gut klappt. Ich kann Geduld üben und versuchen, verständnisvoll mit mir selber umzugehen. Meistens folgt nach einer etwas frustrierenderen Zeit ein kleiner Entwicklungsschub.

Schließlich ist auch das gemeinsame Bouldern in der Gruppe ein wichtiger Aspekt. Wir überlegen oft gemeinsam, wie Kletterrouten gelöst werden können, unterstützen uns gegenseitig und tauschen uns aus. Das empfinde ich als ermutigend, motivierend und es macht Spaß. Angst und Depression sind kaum Thema in der Bouldergruppe. Trotzdem weiß ich von den anderen Teilnehmern, dass sie auf irgendeine Art auch damit zu tun haben. Dadurch fühle ich mich freier, so zu sein, wie ich bin. Alleine würde ich wohl nicht, jedenfalls nicht regelmäßig, Bouldern gehen. Abschließend deshalb ein herzliches Dankeschön an die Gründer und Organisatoren unserer Bouldergruppe.