„Emetophobie ist keine Essstörung“ – Melanie und ihr Weg mit der Angst vor dem Erbrechen
17.3.2025 – erstellt von Laura, auf Basis eines Interviews mit Melanie
Emetophobie – die Angst vor dem Erbrechen – ist eine wenig bekannte, aber weit verbreitete Angststörung. Betroffene fürchten sich nicht nur davor, sich selbst zu übergeben, sondern auch davor, andere Menschen dabei zu erleben. Die Angst kann so weit gehen, dass sie das gesamte Leben beeinflusst: von der Ernährung über soziale Interaktionen bis hin zur Vermeidung bestimmter Orte oder Situationen. Melanie ist eine von ihnen. Heute, mit Mitte 20, blickt sie auf einen langen Weg zurück – einen Weg, der von Angst, Vermeidung und Selbstzweifeln geprägt war, bis sie sich entschied, ihr Leben zurückzuerobern.
Schon als Kind war ihr das Thema Erbrechen unangenehm. Doch ein Erlebnis im Kindergarten brannte sich in ihr Gedächtnis ein: An einem Geburtstag aß sie ein Stück Kuchen, obwohl sie sich unwohl fühlte. Als sie den Erzieher*innen sagte, dass sie nicht mehr könne, wurde ihr erklärt, dass es sich nicht gehöre, Essen liegenzulassen. Kurz darauf wurde ihr übel – und dann passierte es. Vor allen Kindern und Erzieher*innen musste sie sich übergeben. Die anschließenden Reaktionen waren für Melanie fast schlimmer als das eigentliche Ereignis. Man unterstellte ihr, sie hätte es absichtlich getan. Dieses Gefühl der Scham und Hilflosigkeit nahm sie mit nach Hause – und es verließ sie nie ganz.
Mit den Jahren wurde die Angst immer präsenter. Sie mied Situationen, in denen sie sich unwohl fühlte, sagte Einladungen zu Geburtstagen ab und aß nur noch bestimmte Lebensmittel, die sie als „sicher“ empfand. Spontane Restaurantbesuche? Unmöglich. Klassenfahrten? Undenkbar. Selbst ein einfaches Mittagessen wurde zu einer Herausforderung. Sie entwickelte eine Strategie: Wenn sie doch mal mit Freund*innen essen gehen musste, bestellte sie immer Salat oder Spaghetti mit Tomatensoße – Gerichte, die nicht so leicht verderben. Fisch oder andere leicht verderbliche Lebensmittel kamen für sie nicht infrage.
Auch beim Einkaufen wurde sie immer vorsichtiger. Jedes Lebensmittel wurde genau begutachtet, das Mindesthaltbarkeitsdatum akribisch überprüft. Brot mit Mehlstaub darauf? Könnte Schimmel sein – lieber nicht essen. Lebensmittel, die nicht mehr ganz frisch aussahen, wurden direkt aussortiert. Wenn jemand sich vor dem Kochen nicht die Hände wusch, konnte sie das Essen nicht genießen – in manchen Fällen aß sie dann lieber gar nichts.
„Ich hatte immer diese innere Stimme, die mir zuflüsterte: ‚Was, wenn dir schlecht wird?‘ Es war, als würde die Angst mich kontrollieren.“
Doch das Leben geht weiter, ob mit oder ohne Angst. Und Melanie musste sich irgendwie anpassen. Sie entwickelte Strategien, um mit ihrer Emetophobie umzugehen. Sie hatte immer eine mentale Notfallstrategie parat. Medikamente mit Übelkeit als Nebenwirkung lehnte sie ab – zu groß war die Angst, dass sie tatsächlich erbrechen könnte.

Melanie entschied sich für eine Therapie. Ihre tiefenpsychologisch fundierte Therapie begann mit einer mutigen Entscheidung: Sie wollte die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen. Ihre Therapeutin setzte ein klares Ziel: In der letzten Sitzung sollten sie gemeinsam ein Stück Sahnetorte essen. Der Gedanke allein versetzte Melanie in Panik. Doch sie wagte den Schritt – und mit jedem Gespräch, jeder Konfrontation, jeder Übung wurde die Angst kleiner.
Es war kein leichter Weg. Es gab Rückschläge, Momente der Verzweiflung und Tage, an denen sie dachte, dass sich nichts ändern würde. Doch Stück für Stück lernte sie, ihre Angst zu hinterfragen. War es wirklich so wahrscheinlich, dass sie sich übergeben musste? Und selbst wenn – wäre das tatsächlich so schlimm?
Sie entdeckte verschiedene Techniken, die ihr halfen, mit akuten Angstsituationen umzugehen. Die 5-4-3-2-1-Methode, mit der sie ihren Fokus umlenken konnte. Atemübungen, auch wenn sie nicht ihre Lieblingsmethode waren. Eine Notfalltasche mit Akupressurbällen und Lavendelöl gab ihr Sicherheit. Sie lernte, realistisch abzuwägen: Was ist echte Gefahr, und was ist nur die Angst?
Heute – Leben mit der Angst, aber ohne Kontrolle durch sie

Heute ist Melanie nicht vollkommen angstfrei. Aber sie lässt sich nicht mehr von der Emetophobie bestimmen. Sie kann wieder ins Restaurant gehen, neue Lebensmittel ausprobieren und Reisen genießen. Sie hat gelernt, dass Sicherheit nicht immer bedeutet, das Leben zu vermeiden.
Rückblickend wünscht sie sich, dass ihr Umfeld damals ihre Angst ernster genommen hätte. Als Kind hörte sie oft Sätze wie „Reiß dich mal zusammen“ oder „Stell dich nicht so an“. Manche dachten, sie habe eine Essstörung, was die Situation noch komplizierter machte. Ihr eigener Bruder sagte einmal: „Man ist nur so krank, wie man sich fühlt, also denke, du bist gesund, dann fühlst du dich auch so.“ Diese Worte blieben ihr lange im Kopf – und sie fragte sich: „Wie einfach stellst du dir das eigentlich vor? Wenn das so leicht wäre, hätte niemand mehr eine psychische Erkrankung.“
Heute weiß sie: Angst ist keine Schwäche. Und wer darunter leidet, sollte ernst genommen werden. Ihr Rat an andere Betroffene?
„Ihr seid nicht allein. Es gibt so viele Menschen, die diese Angst verstehen. Und ja, sie ist überwältigend. Aber sie ist nicht unbesiegbar. Holt Euch Hilfe. Es ist nichts, wofür Ihr Euch schämen müsst.“
Melanies Geschichte zeigt: Angst kann mächtig sein. Aber sie ist nicht allmächtig. Und manchmal ist der erste Schritt aus der Dunkelheit einfach die Entscheidung, nicht mehr davor wegzulaufen.