Grau ist keine Farbe

Die Kids machen vor, wie’s geht. „Friday for Future“ und Schülerstreiks haben die Brisanz des Klimawandels in höchste Polit-Etagen katapultiert. Münchner Abiturienten legen bei Stress, Ängsten, Depressionen nach. Mit ihrem Film „Grau ist keine Farbe“ verlangen sie: Psychische Krankheiten an den Schulen nicht länger totzuschweigen, sondern sie aktiv in den Unterricht einzubeziehen – und die Schulbehörden bewegen sich.

von Wolfgang Chr. Goede

Bei der Filmpremiere war Münchens größter Filmpalast mit 400 Plätzen ausverkauft. Kein Hollywoodstar gastierte hier, sondern Münchner Schüler rund um den Abiturienten Alexander Spöri stellten ihr neuestes Werk vor: Ein aufrüttelndes einstündiges Doku-Drama, wie Depressionen junge Menschen erbarmungslos in eine Abwärtsspirale ziehen, bis zum Suizidwunsch. Der Freitod als Folge von Depressionen ist die zweithäufigste Todesursache bei Heranwachsenden.

„Wie überlebe ich?“

„Grau ist keine Farbe“

Aussagen der Betroffenen über ihren schlechten Seelenzustand werden von Jungschauspielern gekonnt in Szene gesetzt: Die Angst vor Schule und Prüfungsstress, wie verständnislos Lehrer darauf reagieren, Väter ihre modisch gekleideten Töchter brüllend der Prostitution anklagen, Gleichaltrige sie triezen und mobben, die Opfer ihr Leid in Alkohol ertränken und mit Drogen betäuben, bis der Notarzt kommt.

In schonungslosen Worten und Bildern teilen die jugendlichen Depressionskranken sich in „Grau ist keine Farbe“ mit. „Wie überlebe ich?“, fragt sich verzweifelt eine Schülerin jeden Tag. Die Welt sei schlecht, „weil ich noch da bin“, zerfleischt sich ein Schüler, der im Unterricht nur noch ein seltener Gast ist. Die Betroffenen sind gefangen in einem labyrinthischen Gefängnis, aus dem man „nicht mehr aussteigen kann“ und das dich „alles Vertrauen verlieren“ lässt. Dieses Ausgesperrt-Werden aus der Gesellschaft rahmen die 15- bis 17-jährigen Filmemacher mit Szenen wie dem ziellosen Herumirren in Nebellandschaften und Unterwasserodysseen.

„Faule Drückebergerei!“

In Abwechslung mit diesen Darstellungs- und Stilformen kommen in dem im Farbtonus durchgehend gräulich gehaltenen Film renommierte Experten zu Wort, etwa der Chef der Münchner Universitätsklinik oder der Direktor der Jugendpsychiatrie der Stadt. Ihrer Meinung kommen die jungen Leute mit den großen Freiheiten der heutigen Gesellschaft nicht zurecht. Sie haben nicht gelernt, Entscheidungen zu treffen, was sie orientierungslos hin und her taumeln lässt.

Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssten die Schulen gründlicher ihre Erziehungsaufgabe wahrnehmen, mahnen die Experten. Das heißt, Schüler gründlicher und lebensnaher auf die Berufs- und vielfältige Studienwelt vorzubereiten. Gleichzeitig stünden die unter enormem Druck durch die moderne Kommunikationswelt mit ihren Informationslawinen und -blasen, ihren Nichtigkeiten, Halbwahrheiten und Verdächtigungen. Die Mediziner und Psychiater kritisieren auch, dass Ängste und Depressionen immer noch nicht ernst genug genommen und als „faule Drückebergerei“ abgetan würden.

Schule ignoriert Film

Diesen entwertenden Umgang mit psychischen Störungen und Krankheiten belegte ein Besucher beim anschließenden Filmgespräch mit einem in der Erwachsenenwelt lange Zeit gängigem Zitat: „Was, dir geht’s schlecht? Dann hau ich dir einen in die Fresse, damit du weißt, weshalb es dir schlecht geht.“ Eine Besucherin mit einer chronisch depressiven Tochter sprach von einer „Schande“ im Umgang mit Depressionen, wobei offenblieb, ob sie sich in ihrer Mutterrolle und Unvermögen zu helfen vielleicht auch selbst so fühlte.

Im Austausch mit dem Publikum bedauerte Filmproduzent Spöri, dass seine Schule auf „Grau ist keine Farbe“ nicht reagiert hätte. Er bestätigte das bis heute verbreitete Vorurteil, dass depressive Schüler als eher „zu weich“ eingeschätzt würden. „Die sollen doch erst mal arbeiten gehen“, heiße es ganz schnell. Der frischgebackene Abiturient äußerte sich betroffen darüber, dass es allein in seiner Klasse drei psychische Erkrankungen gegeben habe, ohne dass er etwas bemerkt hätte. Anlass für den Film war der Amoklauf eines Schülers vor drei Jahren in München. Darüber hatte sein Filmstudio MovieJam – im Keller des Hauses seiner Eltern untergebracht – bereits einen prämierten Film produziert.

Warum nehmen Störungen zu?

Die im Film geschilderten Fälle kamen alle aus dem Umfeld des Gymnasiums von Spöri und seinen Mitstreitern in München Unterhaching. Nach einer Therapie gehe es glücklicherweise jetzt allen Betroffenen wieder gut und „sie stehen wieder auf festen Beinen im Leben“, bestätigte der Produzent. Wie die Heilung gelang und mit welchen Methoden, darüber hätte man im Film gerne Näheres erfahren, ebenso über die Gründe, warum Depressionen und psychische Störungen sich fast wie eine Epidemie rund um den Erdball ausbreiten (mit in Neuseeland höchster Schülersuizidrate unter den Industrienationen).

Zunehmender Leistungsstress, der Verlust von Familienzusammengehörigkeit und Sinnhaftigkeit im Leben sind im globalen Norden einige der Auslöser, aber auch im globalen Süden nehmen seelische Erkrankungen zu. Trotz mehrmonatiger intensiver Recherche blieb die Analyse der Schüler hier stecken. Was aber nicht verwunderlich ist, steht doch auch die Fachwelt hier noch vor einem Rätsel.

Ängste und Depressionen in den Deutschunterricht!

Stimmen aus dem Publikum empfahlen, dass mehr Schulpsychologen sich um die Schüler kümmern und dass Selbsthilfegruppen „von unten her“ auf Schülerdepressionen einwirken sollten. So wie die Schule hätten auch offizielle Stellen wie Ministerien nicht auf den Film reagiert, berichtete das Filmteam. Als Antwort auf das Schweigen hatte es eine Petition an den bayerischen Kultusminister Michael Piazolo in Gang gesetzt. Dahinter steht eine deutschlandweit einmalige Initiative: Psychische Krankheiten und den Umgang damit zu einem Teil der Lehrerausbildung zu machen, das Thema im Deutsch- und Biologieunterricht zu behandeln und so die Prävention zu stärken.

Die Filmemacher im Bayerischen Landtag. Produzent Alexander Spöri 3. von links.

Als unter der Petition Ende April bereits 42.000 Unterschriften standen, empfing Piazolo die Filmemacher, lobte deren Initiative und ging in die politische Offensive mit der Verkündung eines Zehn-Punkte-Programms. Darin sagte er, wie entscheidend „eine frühe Diagnose und die entsprechende Therapie“ seien und versprach unter anderem: ein Ausbildungsmodul über Depressionen für Referendare; Aufklärung über Depressionen und Angstzustände in die Lehrpläne aufzunehmen; Lehr- und Aufklärungsvideos für Schüler und Eltern auf die Homepage des Ministeriums zu stellen; auch außerschulische Hilfsangebote und Kooperationen zu erstellen. All das mit dem Ziel, einen „aktiven Beitrag gegen die Stigmatisierung psychisch Kranker“ zu erbringen.

„Verrückt? Na und!“

Auf Anfrage der daz reagierte auch die Kultusministerkonferenz KMK mit einer Stellungnahme zu psychischen Störungen an Deutschlands Schulen. Da Bildung Ländersache ist, kann sie nur Empfehlungen machen und verweist auf „Mind Matters“, ein Programm, das Gesundheit, Respekt, Toleranz in der Schulkultur pflegen soll. Die KMK verwies auch auf die Zusammenarbeit von Schulen mit der Barmer Krankenkasse, Kliniken und Vereinen bei Präventionsprogrammen, etwa bei „Verrückt? Na und!“.

© Text: Wolfgang Chr. Goede, © Fotos MovieJam