Macht Arbeit psychisch krank?
Psychische Gesundheit und Arbeitswelt
Von Tatjana Reichhart
DIE Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) aufgrund von psychischen Erkrankungen lagen im Jahr 2018 mit 11,3 % auf Rang drei des Gesamtkrankenstands, wie der aktuelle Fehlzeitenreport der AOK¹ aufzeigt (andere Krankenkassen haben leicht abweichende Zahlen). Davor rangierten nur noch Muskel- und Skelett-
erkrankungen (22 %) und Atemwegserkrankungen (13,3 %). Sieht man dagegen auf die Anzahl der Fehltage, so liegen die psychischen Erkrankungen mit durchschnittlich 26,3 Tagen mehr als doppelt so hoch wie der Durchschnitt aller anderen Diagnosen mit 11,8 Tagen.
Interessant ist ein Blick auf die Entwicklung der einzelnen Krankheitsarten über die Jahre hinweg. Während die Fehlzeitentage für körperliche Erkrankungen relativ stabil blieben, haben psychische Erkrankungen von 2008 bis 2018 um über 64 % zugenommen (Abb. nächste Seite), ohne dass eine Stagnation in Sicht wäre.
Nach Angaben der deutschen Rentenversicherung von 2018 hat auch der Anteil psychischer und psychosomatischer Erkrankungen an den Frühberentungen stark zugenommen, sodass mittlerweile fast jede zweite Frühberentung (43 %) auf eine psychisch bedingte Erwerbsminderung zurückgeht. Als wären diese Zahlen nicht schon alarmierend genug, bildet sich in aktuellen, repräsentativen Umfragen unter deutschen Arbeitnehmer*innen ab, dass die subjektive Belastung noch viel höher liegt: Mehr als 60% der Befragten fühlen sich oft gestresst und die Hälfte der Beschäftigten schätzt sich selbst als mäßig bis hoch Burnout-gefährdet ein und klagt über Beschwerden wie Rückenschmerzen, Erschöpfung oder Schlafstörungen. Viele meiner Klient*innen, die sich Unterstützung durch Coaching und Beratung suchen, sowie viele der Mitarbeiter*innen und Führungskräfte in den Unternehmen, die ich im Gesundheitsmanagement unterstütze, berichten vor allem vom Gefühl, gehetzt und fremdbestimmt zu sein, nur noch To-do‘s abzuarbeiten. Sie berichten von der Angst nicht mehr mitzukommen, abgehängt zu werden und „etwas“, oftmals sogar „ihr Leben“, zu verpassen.
SIND WIR EINE PSYCHISCH KRANKE GESELLSCHAFT?
Woher kommt dieses omnipräsente Gefühl von Überforderung, Sorgen und Hetze? Ist die Arbeit „schuld“? Und sind wir damit eine psychisch kranke Gesellschaft (geworden)?
Ich möchte zunächst die zweite Frage beantworten und vor dem Hintergrund der Gesamtschau der Befunde verneinen. Fast alle wissenschaftlichen Ausführungen zu diesem Thema belegen, dass es heutzutage nicht mehr Menschen gibt, die an psychischen Erkrankungen leiden als früher und dass die AU-Raten nicht die „wahre“ Prävalenz, also Krankheitshäufigkeit, widerspiegeln. Tatsächlich erkrankt ungefähr ein Drittel der Bevölkerung einmal im Leben an einer diagnostizierbaren und behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung, wie sich in repräsentativen epidemiologischen Studien gezeigt hat, wobei Angsterkrankungen und Depression am häufigsten auftreten. Das war vor 15 bis 20 Jahren auch schon so. Das bedeutet, die AU-Bescheinigungen für psychische Erkrankungen zeigen nicht die reale Krankheitslast der Gesellschaft. Denn immer noch holt sich nur eine Minderheit der Betroffenen professionelle Hilfe. Häufig kommen nur die Menschen zu Hausärzten, Psychotherapeuten und Psychiatern, die noch die Kraft aufbringen, Wartezeiten in Kauf zu nehmen und auch hartnäckig nach einem Psychotherapietermin zu verlangen. Die gestiegenen Zahlen zeigen also nicht eine kränker gewordene Gesellschaft.
Was sind dann die Gründe für den Anstieg der Krankschreibungen? Festzustellen ist, dass immer mehr die Zusatzdiagnose „Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“ in den Vordergrund rückt und somit auf den AU-Bescheinigungen und in den Statistiken auftaucht. Ärzte scheinen besser zu differenzieren zwischen körperlichen Beschwerden und psychischen Hintergründen dieser Symptome, z.B. berücksichtigen sie bei Rückenschmerzen den stressassoziierten Kontext eher. Auch die Patienten scheinen eher bereit zu sein, über ihre psychischen Probleme zu sprechen und eine „psychische“ Dia-
gnose anzunehmen und nicht auf der körperlichen Erklärung der Symptome zu bestehen. Früher hatte man Rücken, heute einen Burnout. Burnout, obwohl keine anerkannte medizinische Diagnose, scheint in der Bevölkerung als Krankheit zunehmend akzeptiert zu sein. Und tatsächlich stellt Burnout ja eine Vorstufe
bzw. einen Risikofaktor für das Entstehen einer psychischen Erkrankung wie Depression oder Angststörung dar.
Zusammenfassend können wir also festhalten, dass sich die gesellschaftliche Akzeptanz, über psychische Beschwerden und Probleme zu reden und sich für diese Probleme – wenn sie denn nicht zu heftig sind – Unterstützung beim Arzt (inklusive Krankmeldung und eventuell Verordnung von Medikamenten) zu holen, erhöht hat und dass auch Ärzte sensibilisierter sind. Insgesamt kann dies vielfach dabei helfen, psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln und damit einer Chronifizierung der Krankheit vorzubeugen. Die gestiegenen Zahlen zeigen somit einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung wie in der Ärzteschaft. Allerdings möchte ich gleichzeitig kritsch anmerken, dass oft auch Probleme in der Bewältigung von schwierigen, aber völlig normalen Lebensereignissen, z.B. Konflikten, Todesfällen und Trauer, Trennungen und Stress am Arbeitsplatz, als krankhaft angesehen werden, obwohl sie es nicht sind (Pathologisierung). Das führt dazu, dass wirklich ernsthaft erkrankte Menschen, die an schweren Depressionen, Angststörungen oder Psychosen leiden, weiterhin stigmatisiert werden, sich selbst stigmatisieren und nicht zuletzt deswegen eher zu spät Hilfe erhalten.
STRESST UNS DIE ARBEIT HEUTE MEHR?
Wenn wir nun eigentlich nicht psychisch kränker sind als früher, warum fühlen wir uns dann so sehr unter Druck, ausgebrannt und gestresst bis hin zu dem Gefühl, es nicht mehr zu schaffen, einfach nicht mehr „zu können“? Ist die Arbeit daran schuld?
Auch dazu gibt es viel Diskussion und Spekulation. Die Veränderungen der Arbeitswelt, die Beschleunigung und zunehmende Komplexität, das hohe Maß an Unsicherheit und Instabilität, agile Arbeitsprozesse sowie weiterhin traditionelle, noch stark hierarchische und patriarchalische Unternehmenskulturen, in denen der Mensch als Ressource in den Hintergrund tritt, werden als Gründe aufgeführt. Hinsichtlich des Arbeitslebens spricht man seit einigen Jahren von der so genannten VUCA-Welt. VUCA setzt sich zusammen aus den Anfangsbuchstaben der englischen Worte volatility, uncertainty, complexity und ambiguity. Damit soll gesagt werden, dass unsere Arbeitswelt, ja im Grunde unsere ganze Lebenswelt volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig geworden ist.
Aber ist das neu? Lebten unsere Vorfahren in stabileren Verhältnissen? Waren die Erfindungen der Dampflokomotive, des Telefons und des Automobils nicht auch mit Beschleunigung und Veränderung verbunden? Unterschätzen wir Menschen von heute vielleicht unsere Resilienz, unsere seelische Widerstandsfähigkeit? Immerhin leben wir in unseren Breitengraden in den sichersten Zeiten überhaupt. Noch nie war das Risiko, an Mord und Krankheit zu sterben so gering wie aktuell. Noch nie waren wir sozial so gut abgesichert und haben in solch einem Überfluss gelebt wie heute. Und gleichzeitig sind wir einer Negativität anheimgefallen, die durch klassische und soziale Medien noch befeuert wird.
Selbstverständlich hat auch der Arbeitskontext Einfluss auf uns. Und unzweifelhaft haben die Belastungen der modernen Arbeitswelt zugenommen: hoher Zeitdruck und Arbeitsintensität, neue Techniken, die ständige Lernbereitschaft erfordern, flexiblere Arbeitszeiten, ständige Erreichbarkeit, immer mehr Projekt-
arbeit usw. – das alles erhöht den Stress und verstärkt die Angst, nicht mehr mitzukommen. Das alles sind sicher neue Anforderungen, die es in diesem Maße früher nicht gab.
Doch welche Faktoren am Arbeitsplatz wirken sich wirklich negativ auf unsere (psychische) Gesundheit aus? Alle wesentlichen Studien zu dieser Frage liefern eine interessante Erkenntnis: Es ist nicht die vermeintliche ständige Erreichbarkeit, es sind nicht mal die dauernden Unterbrechungen oder die Digitalisierung, die uns ängstigen und „fertig“ machen, es sind vor allem die mangelnde Wertschätzung (nach dem Psychologen Johannes Siegrist) und ein zu geringer Handlungsspielraum bei komplexen Aufgabenstellungen (nach dem Psychologen Robert Karasek). Eine Vielzahl von Studien zeigt: Menschen geraten in negativen Stress, wenn sie sich für ihren Job oder eine Aufgabe engagieren bzw. verausgaben und gefühlt zu wenig Wertschätzung durch Lob und Anerkennung der Führungskräfte, durch einen angemessenen Lohn, aber auch durch Arbeitsplatzsicherheit und Aufstiegschancen zurückerhalten. Ebenso führt es zu negativem Stress, wenn Menschen zu wenig selbst darüber bestimmen können, wie sie komplexe Aufgaben lösen, weil sie z.B. stark kontrollierenden Führungskräften und Strukturen (so genanntem Micro-Management) unterworfen sind. Solch negativer Stress wiederum ist mit einer erhöhten Auftretenswahrscheinlichkeit von Depression, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eventuell auch Angststörungen assoziiert. Kommt neben mangelnder Wertschätzung, zu geringem Handlungsspielraum noch Ungerechtigkeit dazu, dann erhöht sich damit sogar das Risiko, aufgrund einer Depression frühverrentet zu werden.
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SCHWERPUNKT
- Macht Arbeit psychisch krank?
Psychische Gesundheit und Arbeitswelt - Ängste am Arbeitsplatz
Ein Erfahrungsbericht - Burnout oder Angst?
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