Online-Selbsthilfegruppen

Von Kerstin Schäffer, Münchner Angstselbsthilfe e.V.

Die Einen halten Angstselbsthilfe im Online-Chat für einen Widerspruch in sich. Die Anderen dagegen meinen, dass es ein wichtiges Angebot für diejenigen Betroffenen sein kann, die z.B. nicht in München wohnen, alleinerziehend sind oder körperliche Einschränkungen haben, überhaupt an einer Gruppe teilnehmen zu können. Und außerdem: Müssen wir nicht offen sein für neue Entwicklungen? Steht uns dabei gar die eigene Angst im Weg?

Die Selbsthilfegruppe: Umgang mit der Angst lernen

Angst wächst mit der Vermeidung von angstmachenden Situationen. Wenn ich keine positiven Erfahrungen mehr mache, wird die „Türschwelle“ immer höher. Angst, die nicht gesehen, die nur bekämpft wird, wächst weiter, übernimmt die Kontrolle über das, was Betroffene tun können und was nicht. Dann trifft die Angst die Entscheidungen.

Den Umgang mit der Angst lernen, heißt, sich der Angst zu stellen, sich zu exponieren, zu trauen und zu üben. Durch gute Erfahrungen wieder Sicherheit und Selbstvertrauen und damit Kontrolle zurückzugewinnen. Heißt aber auch, zu verstehen, was meine Angst mir sagen will. Wann ist sie da? Wann und wo möchte ich lernen, anders mit den Herausforderungen im Alltag, im Beruf, mit Familie, mit Beziehungen, sozialen Kontakten und Konflikten, umzugehen?

Die Angstselbsthilfegruppen der MASH decken beide Aspekte ab. Indem ich z.B. mit der U-Bahn zur Gruppe fahre, indem ich im Stuhlkreis sichtbar werde, angesprochen werde, mit dem Rücken zur Tür sitze und indem ich mich verbindlich einlasse, auf Regeln und auf andere Menschen, stelle ich mich der Angst. Und ich kann in der Gruppe verstehen, was meine Angst mir sagen will, durch Austausch, durch Feedback, durch Konflikte, durch Zuwendung und durch die Erfahrungen derer, die weiter sind als ich. Ich kann lernen, mir und anderen wieder zu vertrauen.

Kann eine Online-Gruppe genauso wirksam sein?

Eine Gruppe, bei der alle Teilnehmer*innen, allein zu Hause vor dem Bildschirm sitzen? Niemand mehr seine vier Wände verlassen muss? Die Wahrnehmung des Anderen stark fokussiert ist auf Hören und Sehen? Wo Gefühle gut verborgen werden können? Die persönlichen Interaktionen durch die Grenzen der Technik eingeschränkt sind? Wo jeder einfach durch „einen Klick“ wieder rausgehen kann?

Als der Corona Lockdown verkündet wurde, waren diese Fragen zweitrangig. Auf einmal waren alle Gruppen geschlossen. Doch die Gruppen stellen für die Betroffenen eine wichtige Unterstützung, einen Anker im Alltag, einen geschützten Raum dar. Diesen Raum wollten wir, so schnell wie möglich, online wieder schaffen. Dass es gerade in der Zeit der sozialen Isolation keine Gruppentreffen gab, war für viele Betroffene eine zusätzliche Belastung.

Eine große gemeinsame Exposition

Die meisten unserer 18 Gruppenleiter*innen und 210 Teilnehmer*innen hatten kaum Erfahrungen mit Online-Chats und wenig PC-Kenntnisse. Unsere Wahl fiel auf das datenschutzsichere Format Blizz. Die Ängste, vor der Technik und der Vorstellung, sich im Video-Chat zu begegnen, waren groß. So begann die vermutlich größte gemeinsame Exposition in der Geschichte der MASH.

Die diversen technischen Anfangsschwierigkeiten führten dazu, dass so mancher, im Team und bei den Gruppenleitungen, seinen Gefühlen, wie Perfektionismus, Versagensangst, Überforderung, Selbstzweifel und Schuldgefühle, freien Lauf ließ. Technische Probleme waren auch in den Gruppen zunächst sehr präsent: veraltete Endgeräte, schwaches WLAN, Anwendungsfehler. „Dein Ton ist weg! Dein Bild steht!“, waren wohl die am häufigsten gesagten Sätze der ersten Treffen. Ein persönlicher Austausch war unter diesen Umständen kaum möglich.

Ein sehr einfühlsamer IT-Berater bot uns Schulung, Lösungen und Zuversicht. In vielen Online-Treffen haben wir uns bei Fragen und Problemen gegenseitig unterstützt. Wir begannen, zusätzlich zu unseren bewährten Gruppenregeln, Chat-Regeln einzuführen, um die Kommunikation besser zu koordinieren.

Zu den persönlichen Anfangsschwierigkeiten, sich im Video-Chat zu treffen, gehörten Gefühle wie Unsicherheit, Scham, Aufregung, Angst. „Das ist so, wie in den Spiegel zu schauen und sich selbst beim Sprechen zu zusehen. Und ein bisschen so, wie als wenn man von den anderen durch die Kamera beobachtet wird“, sagte eine Gruppenleiterin. Es kann also auch eine Exposition sein, wenn ich mich am Bildschirm präsentiere. Anders als im persönlichen Kontakt kann man schwer einschätzen, wohin die anderen schauen und wie sie körpersprachlich reagieren, auf das, was ich sage. Da sage ich lieber nichts? Überhaupt ist das Schweigen im Chat sehr leise. Bis einer sagt: „Hallo? Ich höre nichts. Ich glaube mein Ton ist weg!“

Manche Teilnehmenden haben Zeit gebraucht, um sich einzulassen, manche nehmen nur telefonisch an Treffen teil. Manche sind gar nicht dabei, weil sie das nicht möchten, keinen geschützten Raum zu Hause haben oder nicht über die nötige technische Ausstattung verfügen. Sie werden von der Gruppe durch zusätzliche Telefonate unterstützt. Die Teilnahme an den Treffen schwankt, wie sonst in den Gruppen auch.

Alle müssen alle im Blick behalten

Im Laufe der Wochen stieg das Selbstvertrauen in unsere technischen Fähigkeiten und wir gewöhnten uns an die neue Art der Begegnung. „Besser als nichts!“ – so das Fazit der ersten Zeit.

Die Chat-Treffen gaben zum ersten Mal auch einen sehr persönlichen Einblick in das Leben der Anderen. Man saß gemeinsam in Küchen, vor Bücherwänden, auf Sofas und es wurden Hamster und Hunde in die Kamera gehalten oder Musikinstrumente gespielt. Waren die Gespräche in den ersten Wochen noch sehr holperig und allgemein, gewannen sie in fast allen Gruppen zunehmend an Intensität.

Manchen Teilnehmer*innen fällt es im Chat leichter zu reden, die Distanz, die durch den Bildschirm entsteht, schützt auch. Insgesamt brauchen die Chat-Treffen eine hohe Gesprächsdisziplin. Ausreden lassen, gut zuhören, nacheinander sprechen. Das hilft Betroffenen, die in der Gruppe eher zurückhaltend sind. Alle müssen alle im Blick behalten.

Die reduzierte Wahrnehmung der Anderen, auf Hören und Sehen, erfordert eine hohe Konzentration, die vielen Betroffenen schwerfällt.  Und wir kennen uns persönlich und werden uns wieder begegnen. Das ist einerseits hilfreich, weil über die Zeit auch in den Chats die alte Vertrautheit und Nähe wieder da war. Andererseits wird das als Notlösung empfunden. Das kann dazu führen, dass Themen im Chat gar nicht angesprochen, verschoben werden und die Verbindlichkeit sinkt.

Konflikte können z.B. nur schwer besprochen werden. Und wenn es einem Teilnehmer schlecht geht, wenn er weint, ist das am Bildschirm kaum auszuhalten. Bei wichtigen, emotional intensiven Themen kommt das Chat-Treffen an seine Grenzen. Es kann den persönlichen Kontakt nicht ersetzten. Und damit bleibt auch die persönliche Weiterentwicklung und Arbeit an den eigenen Angst-Themen in einer Online-Gruppe begrenzt.

Doch bis zu dieser Grenze ist viel möglich. Das haben wir jetzt gelernt und erfahren. Es war eine gute Erfahrung, die unsere Arbeit bereichert und unseren persönlichen Horizont erweitert hat. Wir haben die Krise sehr engagiert genutzt und gemeinsam gemeistert.

Unser Fazit:

Online-Gruppen können eine gute Alternative sein, wenn die Hürde noch zu groß ist, die Lebensumstände oder der Wohnort eine persönliche Teilnahme erschweren. Es ist eine andere Ausgangssituation, wenn die Teilnehmer*innen sich nicht persönlich kennen. Wenn das Format nicht als Notlösung, sondern als dauerhaft empfunden wird. Wenn man sich bewusst dafür entscheidet und darauf einlassen kann. Viele Aspekte unseres Angstselbsthilfe-Konzeptes können auf Online-Gruppen übertragen werden, einige nicht. Online-Gruppen sind einfach anders, nicht besser oder schlechter.