Samstag, 1. August 2020 | 8 Uhr

Ein wunderschönes Wochenende ihr Lieben!

Heute haben wir zwei Texte für Euch, die Euch mit auf ganz unterschiedliche Selbsterfahrungen nehmen: Yvonne hat am 7. Juni darüber geschrieben, wie sie es geschafft hat, sich zu erden. Sie nimmt uns mit auf eine Reise durch ihre Vergangenheit als DDR Kind und ihre Gegenwart im hier und jetzt. Wolfgangs Text vom 25. Mai passt so wundervoll dazu, da er von den Momenten erzählt, wo man sich selbst von außen sieht. Quasi ent-rückt von der Gegenwart des eigenen Empfindens.

Wir hoffen, dass ihr heute genau wisst, wo ihr euer Gesicht in die Sonne haltet und wünschen Euch ein schönes Wochenende!

Viele liebe Grüße von
Katharina und dem ganzen Team von angstfrei.news

P.S.: Wir hoffe euch gefällt das aktuelle Format während unser Redaktionsferien. Wir freuen uns sehr über Feedback hierzu. Ab dem 3. August geht es dann in gewohnter Manier, aber mit neuem Schwung weiter.

Mit nackten Füßen im Rasen
von Yvonne

Vor ein paar Jahren, wusste ich noch nicht, dass das hier etwas sein würde, wo ich mich wieder geerdet fühle. Nun bin ich hier und so dankbar. Hier haben mein Herz und ich vielleicht zu meinen Wurzeln zurückgefunden – in einer Laube in Brandenburg.

Aufgewachsen bin ich in der DDR, am Stadtrand in Ostberlin. Es fühlte sich nicht wie Stadt an. Es war sehr entspannt. Die Straße, in der wir wohnten, mündete in den Wald. Wir spielten auf der Straße vor dem Haus Federball. Freunde und Freundinnen wohnten fußläufig, wenn nicht sogar, gleich nebenan. Ich verbrachte den Sommer draußen, barfuß im Garten, in den Wäldern, auf den Feldern. Das fünfte Familienmitglied war immer ein Hund. Es war schön! Ich habe mich wohl gefühlt, ich habe mich frei gefühlt.

Bis ich anfing, mir meine eigenen Gedanken über mein Leben zu machen. Und ich anfing, mir Fragen zu stellen, wie diese: 

Warum darf ich mir die Welt nicht ansehen, die Südsee, die Alpen, Paris nie live erleben? Viel später kamen dann noch andere Fragen hinzu: Warum marschierte ich zum Fahnenappell, wie ein Soldat? Warum trug ich erst ein Pionierhalstuch und später ein FDJ Hemd? Warum haben wir im Sportunterricht mit Fake Handgranaten geworfen und warum ließ man uns mit Gasmasken durch den Wald robben? Ja, tatsächlich, so geschehen, so erlebt.

Viel später hat mich das wütend gemacht, weil ich geformt und beschnitten wurde in meiner Persönlichkeit, um zu funktionieren, rein zu passen, in eine Form, die ich mir nicht ausgesucht hatte. Dennoch lebe ich heute ein Leben, was schön ist. Aus mir ist ein empathischer, sensibler Mensch geworden, vielleicht gerade deshalb, weil ich erlebt habe, was ich erlebt habe. Und so hat das Leben, wie eine Medaille immer zwei Seiten. 

Meine Eltern waren nie einverstanden mit dem System und hielten sich aus dem politischen Irrsinn, so weit wie nur möglich raus, wollten schon immer weg. Man konnte es sich nicht leisten, richtig laut zu sein, gegen die Staatsgewalt und so tauschte man sich im Privaten aus und umgab sich möglichst mit Gleichgesinnten. Und da ging es uns ganz gut.

Meine Schwester wurde geboren, da war ich schon 8, fast 9 Jahre alt. Sie hatte ständig Bauchschmerzen. Es stellte sich heraus, dass sie Zöliakie hatte. Eine Glutenunverträglichkeit. Das hieß, kein Getreide, wie Roggen, Weizen, Gerste, Dinkel zu sich nehmen, sondern komplett darauf verzichten. Brot, Brötchen, Nudeln – Fehlanzeige. Mein Vater buk Brot und es gab Filinchen, wenn es gut lief. Im Osten dieser Stadt gab es nicht die große, breite Auswahl an Ersatz für Getreide, ein paar Kilometer weiter, in Westberlin schon.

Ich erinnere noch, wie mich meine Eltern im Jahr 1986 ins Wohnzimmer riefen und verkündeten, dass sie sich nun, nach jahrelangem Ringen, entschieden hätten, einen Ausreiseantrag zu stellen. Sie wollten wissen, wie ich darüber denke, ob ich einverstanden wäre. Ich hatte keine Ahnung, was das für mich bedeuten würde, empfand es als Abenteuer und gab meine Zustimmung, da war ich um die 13, 14 Jahre alt.

Diese Entscheidung bedeutete jedoch, von nun an, jederzeit mit Druck und Schikane konfrontiert zu sein. Ab dem Zeitpunkt des offiziellen Antrags hatten meine Eltern regelmäßig Termine bei der Stasi (Staatssicherheit). Dort wollte man sie mit allen Mitteln umstimmen. Es wurde mit allem gedroht (auch damit, ihnen uns Kinder weg zu nehmen), wenn sie den Antrag nicht zurückziehen würden. Ich wusste das damals so nicht, das war auch gut so.

Was ich allerdings erlebt habe ist, dass meine Eltern regelmäßig zu diesen Terminen mussten und mich vorher baten, falls sie bis zu einer bestimmten Uhrzeit nicht zurück sein würden, sollte ich mit meiner Schwester (6) zu den Nachbarn gehen… Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es sich angefühlt hat, das zu hören. Ich habe die Hintergründe und den Ernst der Lage in dem Moment auch gar nicht richtig verstanden. Heute denke ich, dass ein Teil meiner Verlustangst, auch daher rührt. Immer, wenn ich später so richtig verliebt war, war ich damit konfrontiert.

Meine Mutter verlor ihren Job als Kitaleiterin und wurde herunter degradiert, fortan von Vorgesetzten und Unmenschen angeschrien und auch hier immer wieder unter Druck gesetzt. Ich musste an Veranstaltungen in der Schule nicht mehr teilnehmen. Inzwischen war ich ca. 15, 16 Jahre alt und kurz davor, meinen Schulabschluss (10. Klasse) an der POS zu machen. Ich war eine gute Schülerin. Das Abitur konnte ich mir aber abschminken. Das war für die Parteitreuen reserviert. Darauf hatte ich keine Chance. Obwohl mein Zensuren Durchschnitt das hergegeben hätte.

Ich erinnere, dass ich einmal zusammen mit meiner Mutter bei der Stasi saß und der oder die, das weiß ich nicht mehr genau, meiner Mutter allen Ernstes vorschlugen, (ich saß daneben… und ja, vorSCHLAG – Faust voll ins Gesicht…), dass ich Gabelstaplerfahrerin werden könnte. (Nichts gegen Gabelstaplerfahrer*innen) … aber was? Meine Mutter verteidigte mich und ich spürte am eigenen Leibe, wie es sich anfühlt, ungerecht behandelt und erpresst zu werden. Gabelstaplerfahrerin bin ich nicht geworden, denn Ende August, Anfang September 1988 bekamen wir ein Telegramm…

Das Telegramm – was das genau heißt? Wir bekamen ein Telegramm, in dem stand, dass der Ausreiseantrag „genehmigt“ wurde und wir innerhalb einer Woche das Land zu verlassen hätten. Das Land, in dem wir bis dahin zu Hause waren. Wir lösten also unser komplettes Leben innerhalb einer Woche auf.

Auf einer großen Abschiedsparty verabschiedeten wir uns von Freund*innen und Familienmitgliedern. (Damals ließ man ausgereiste DDR-Bürger nicht mal mehr auf einen Besuch in die DDR, das war die „Strafe“. Wer die DDR verlässt, der darf auch nicht wieder rein. (Wie bei streitenden Kindern, oder Pärchen. Wenn du dies nicht, dann das nicht, das ist jetzt Deine Strafe, bäh „Zunge raus“.) Du bist ein Verräter!

Die Party war vorbei und nun hieß es, unser Leben an diesem Fleckchen Erde aufzugeben. Wir verschenkten fast unser gesamtes Hab und Gut. Einen Teil schickten wir voraus, nach Westberlin. Alles was man erstmal so braucht für einen Neuanfang. Ich glaube es waren 4 große Pakete, mehr nicht. Töpfe, Bettwäsche, usw. 

Persönliche Erinnerungsstücke habe ich heute leider keine mehr. Kein Kuscheltier, kein Schwimmabzeichen, oder sonstige Andenken, die mich an meine Kindheit erinnern. „Nur“ meine Bilder im Kopf, die durchaus sehr schön sind. Wir nahmen ausschließlich das Nötigste mit.

Meine Eltern mussten bescheuerte Formulare ausfüllen und sind durch den rationalen und emotionalen Stress, der in dieser Zeit auf uns alle ein prallte, manches Mal verzweifelt. Letzten Endes waren sie einem Nervenzusammenbruch mehr als nahe.

Am 8. September 1988 standen wir dann tatsächlich zu viert plus Hund und 2,3 gepackten Koffern am Grenzübergang Friedrichstraße. Für ein paar Stunden hatten wir keine Staatsbürgerschaft. Keinen ostdeutschen, aber auch keinen westdeutschen Pass. Wir gingen durch die Kontrolle und landeten in unserem neuen Leben. Wie durch eine unscheinbare Zeitschleuse wurden wir in eine, zwar unsere Sprache sprechende, aber völlig neue Gesellschaft katapultiert. Am Abend schliefen wir im Auffanglager in Marienfelde…

Ein Lebensabschnitt, der mich geprägt hat. Vorher gab es andere Erlebnisse, die mich geprägt haben und danach gab es jede Menge andere. So formt (schleift) uns das, was wir erleben, zu dem, was wir heute sind. Jeder für sich ein kleiner Diamant. Denn…

heute bin ich froh, dass ich diese, meine Erfahrung in mir trage. Sie macht mich zu einem Menschen, der versteht, was es heißt, sein bisher gelebtes Leben aufzugeben und nochmal ganz von vorne anzufangen.

Ich habe unter anderem daraus eine Stärke entwickelt, die ich nicht mehr missen möchte. Ich habe eine Sensibilität für andere Menschen und einen unglaublichen Gerechtigkeitssinn, auf den ich stolz bin.

Ich würde mir nie anmaßen, jemandem abzusprechen, dass er für sich den besten Ort für sein Leben wählen möchte, egal wo auf dieser Welt. Meine Überzeugung ist, dass jeder Mensch selbst entscheiden soll, wo auf diesem Planeten, er sein Leben verbringen will, wenn er überhaupt die Mittel dazu hat. (Da beginnt wieder ein anderes Thema!)

Meine Botschaft an den Leser ist: Jeder hat seine Geschichte. Kein anderer auf der Welt hat dieselbe Geschichte wie Du. Alle Erfahrungen aus gelebten Zeiten nehmen wir mit und tragen wir in uns. Sie bereichern, machen das Leben manchmal komplizierter, sie formten uns und machten uns stärker. Wir lernen aus Krisen, wir lernen immer in den schwierigsten Situationen.

Wenn Du Dich einsam fühlst, ängstlich bist, Sorgen hast, schau genau hin. Steh zu Dir und Deinem Leben. Schau in Dich hinein und Du wirst neben der Angst auch Deine Stärke finden, denn die hat jeder. Verliere nie den Mut etwas Neues zu wagen. Wenn Du in einer Sackgasse steckst, dreh um, und dann biege neu ab.

Ich bin, was meinen Garten hier angeht, genau richtig abgebogen. Es hat lang gedauert, aber nun bekomme ich mein Stück vom Glück. Meine Füße im Rasen, so, wie ich es als Kind schon geliebt habe. Was würde Dich denn jetzt glücklich machen? Begib Dich auf die Suche und geh los, denn das ist nur DEIN LEBEN.

Blitz aus dem Heiteren

Von Wolfgang

Kennt das Jemand? Man sitzt, steht, läuft irgendwo. Plötzlich erstarrst du, als ob dich ein Blitz getroffen hätte. Die Zeit scheint einzufrieren. Man tritt aus sich heraus. Bin das ich? Ein Haufen Zellen, Fleisch, Blut, Knochen. Nackt und bloß. 1,72 Meter Körperlänge und 75 Kilo Lebendgewicht, in einem fast 100 Milliarden Lichtjahre großen und 10 hoch 53 Kilo schweren Kosmos. Ein Nichts. Wie ein Roboter herumrennend, ohne sich, mich, die Welt je verstehen zu können.

Ent-rückt—ver-rückt, so ging’s mir, als ich in der Hektik täglicher Routinen mich neulich in den Schaukelstuhl fallen ließ, während des sich geisterhaft über den Erdball ausbreitenden Coronavirus, in Cremona, New York, Rio sich stapelnden Leichensäcken. Es überkam mich, einfach so.

Solches sind existenzielle Momente. Seltsam verängstigend, auch bereichernd. Eigentlich sollten wir glücklich sein, wenn unser Menschsein uns mal bewusst wird. Um solches Erleben kreisen die Bücher der Existenzialisten Albert Camus und Jean-Paul Sartre – mit „Die Pest“ eine der angesagtesten Corona-Lektüren derzeit.

Vielleicht hatte so was wie mich im Schaukelstuhl den Psychiater Jan Kalbitzer erwischt. In einem Hotelzimmer verlor er plötzlich den Boden unter sich, taumelte ins gefühlte Nichts. Ein Todeserlebnis für ihn, das ihn fortan wie ein Trauma verfolgte. Er versuchte diverse Therapien und schrieb sich diese Erschütterung in einem Buch von der Seele, in einer Konfrontation und Exposition mit sich selbst.

Was Kalbitzers Kolleginnen und Kollegen alles diagnostizierten: Arbeitsstress, Midlife-Krise – alles völlig normal, sagten sie. Auch eine Panikattacke wurde gehandelt, sogar ein Gotteserlebnis. Der Patient selbst diagnostizierte bei sich selbst Überperfektion als Kompensation seiner Defizite, nie erwachsen geworden zu sein; auch Fehler seiner Eltern, die zuließen, dass er in einem alternativen Kinderladen hin und her geschubst worden war.

Das alles ist Spiegelbild dessen, was uns in diesen Corona-Tagen widerfährt. Viel Spekulation, wenig Robustes. Hohl wie ein von Würmern zerfressenes Stück Holz. Was mach ich draus, um mich darin nicht zu verlieren, ins existenzielle Nichts zu taumeln?

Die Deutung meines Erlebnisses als ganzheitlich-holistisches, wenn man so will buddhistisches, aber auch naturwissenschaftliches gibt mir Halt. Wir sind alle Teil eines großen organischen Kreislaufs. Ein winzigst-klitzekleines Quäntchen in Einsteins-Plancks Quantenkosmos. Immerhin so bedeutend, dass wir uns dessen immer mal wieder bewusst werden. Ist das nicht Grund, stolz zu sein, Zuversicht zu schöpfen, das Beste daraus zu machen?

Wie immer, wenn man einen dicken Knoten vor sich hat, den Faden zum Entwirren nicht findet, das filigrane Kunstwerk mit dem Schwert aber auch nicht durchschlagen will – schreiben hilft!

→ Kalbitzer Buchrezension in daz #1/2020