“Angst ist eine Chance”

Einleiten möchten wir diesen Artikel mit einer Metapher aus Yvonne Georges Buch “Die verborgenen Chancen der Angst”. Darin setzt sie die Angst mit dem Kokon einer Raupe gleich. Dieses bietet zunächst einmal einen Schutzraum und ist zentraler Ort des Wachstums. Je größer die Raupe wird, desto einschränkender wird es jedoch. Es wird Zeit das Kokon zu durchbrechen, um zum Schmetterling zu werden zu können. Es wird Zeit, sich aus den Fesseln des Kokons zu lösen, über das Kokon hinauszuwachsen.

Übertragen auf die Angst heißt das, dass sie uns zunächst schützt, sie dient unserem Überleben. Angst weist uns darauf hin, dass etwas im Moment nicht stimmt, ermöglicht uns schnell zu handeln, zu rennen, zu fokussieren, alles andere um uns herum auszublenden.

Das ist hilfreich, sofern die Gefahr wirklich eine Bedrohung für uns darstellt. Gerade im Kontext von Angststörungen treten Ängste aber auch in irrationalen Zusammenhängen auf. Wir erleben sie dann als Einschränkung, sozusagen als “Wachstums-Bremse”. Die gute Nachricht: Wir haben die Möglichkeit das Angst-Kokon zu knacken.

Um die positiven Seiten der Angst kennenzulernen, kann an erster Stelle ein Blick auf den Sinn hinter der Angst hilfreich sein. Hierfür möchten wir kurz auf die systemische Perspektive auf Angsterkrankungen eingehen. Laut dieser ist Angst immer in ein sogenanntes “soziales System”, wie beispielsweise die Familie, eingebettet. Die Person, die Angstzustände verspürt, ist dabei Symptomträger*in, die Angst beeinflusst jedoch das gesamte (Familien-)System und ergibt darin einen Sinn.

Zur Veranschaulichung ein Beispiel: Die Angst eines Kindes kann Konflikte zwischen den Eltern überdecken und verhindern, dass diese thematisiert werden. So wird eine Scheinharmonie aufrechterhalten, jedoch auch die Angst. Denn das Kind lernt: “Wenn ich ängstlich bin, streiten sich meine Eltern nicht und alles ist gut!” Unterbewusst wird die Angst als hilfreich wahrgenommen, um das System aufrechtzuerhalten.

Angst ist aus der systemischen Perspektive also Ausdruck einer Dysbalance im System. Damit können wir zu den positiven Seiten der Angst überleiten. Wenn uns bewusst ist, dass Angst aus einem Ungleichgewicht (sei es aufgrund von äußeren Faktoren, wie Belastungen im privaten/ beruflichen Umfeld, oder inneren Faktoren, wie Überforderung durch zu wenig Entspannung) heraus entsteht, können wir gezielt daran arbeiten.

Angst kann dann als hilfreiche “Alarmanlage” umgedeutet werden. Sie macht uns achtsamer für unsere Bedürfnisse und zeigt uns, dass es Zeit ist, etwas in unserem Leben zu verändern: Mehr Pausen einzubauen, in den sozialen Kontakt zu gehen, sich mehr zu bewegen, wieder mehr auf die eigenen Bedürfnisse zu hören o.Ä.

Angst ist auch insofern eine Chance, als dass wir uns selbst besser kennenlernen, wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen. Angst regt uns zur (Selbst-) Reflexion an. Sobald wir uns mit der Angst beschäftigen, werden wir bestimmte Gedanken- und Handlungsmuster bei uns selbst erkennen, potenzielle Gründe für die Angst erforschen und besser verstehen, warum wir in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art und Weise reagieren. Wenn wir uns und unsere Angst besser verstehen lernen, können wir sie auch leichter annehmen, was eine entscheidende Grundlage in der Bewältigung ist. Die Angst anzunehmen und nicht wegzudrücken kann zum Beispiel bedeuten, sie nicht (mehr) als Feindin, sondern als gute Bekannte oder sogar Freundin zu betrachten. So können wir lernen mit ihr umzugehen und darauf zu hören, was sie uns zu sagen hat. Hinter der Fassade der Angst schlummern oft Bedürfnisse, die wir in der Auseinandersetzung mit ihr mit etwas Übung besser erkennen können.

Damit wären wir beim nächsten Punkt: Angst bietet die Chance, sie zu bewältigen und damit über sich hinaus zu wachsen. Menschen mit einer Angsterkrankung kennen vermutlich das Gefühl, sich von der Angst quasi geleitet zu fühlen. An der Stelle erneut der Hinweis: Angst ergibt im Moment ihres Auftretens zumindest unterbewusst einen Sinn. Die Devise lautet ins Handeln zu kommen. Der Weg der Angstbewältigung ist gewiss kein leichter und geschieht nicht von heute auf morgen, aber es lohnt sich. Wer schon einmal eine Krise durchlebt hat und wieder herausgekommen ist, weiß es: Der Bewältigungsweg kann zwar steinig sein, aber blickt man nach einiger Zeit auf die bewältigte Krise zurück, wird man im Idealfall an Reife dazugewonnen, sich persönlich weiterentwickelt und an Selbstvertrauen gewonnen haben.

Auch der Musiker Nicholas Müller setzt sich in seinem Weg der Angstbewältigung mit den positiven Seiten der Angst auseinander. Im WDR-Podcast “Besser so” mit Dr. Leon Windscheid geht er darauf ein, welche Chancen er in der Angst sieht:

Panikattacken: Wofür ist Angst eigentlich gut? – Besser so – WDR Audiothek – Mediathek – WDR

(https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr/besser-so/index.html)

Die Angstbewältigung ist sicher kein Spaziergang und auch kein linearer Prozess. Mal fühlt es sich leichter, mal schwerer an. Klar ist: sich auf dem Weg Unterstützung zu holen kann helfen: Ob Freunde, Familie, eine Selbsthilfegruppe oder professionelle Unterstützung liegt dabei in der eigenen Hand. Erste Unterstützungsmöglichkeiten findet ihr auf unserer Homepage (u.a. in Form unseres DASH-Workbooks, der Peer-to-Peer Online-Beratung oder den Ausgaben der daz – Deutsche Angst-Zeitschrift). Wir freuen uns, von euch zu hören und euch Impulse für euren persönlichen, individuellen Weg aus der Angst zu geben.

Quellen:

George, Yvonne; Lörzer, Anna-Charlotte (2020): Die verborgenen Chancen der Angst. Wie du Freundschaft mit der Angst schließt und dadurch frei sein wirst. Amazon Distribution, Leipzig.

Schwing, Rainer; Fryszer, Andreas (2018): Systemische Beratung und Familientherapie. Kurz, bündig, alltagstauglich. V&R Verlag, Göttingen.