Soziale Phobie – die Angst vor negativer Bewertung

„Er mied jeden Kontakt aus Angst, schlecht behandelt zu werden, sich zu blamieren oder in seinen Gebärden oder durch sein Reden aus dem Rahmen zu fallen oder sich übergeben zu müssen. Er glaubte sich von jedermann beobachtet.” Dieses modern anmutende Zitat stammt tatsächlich von dem antiken Arzt Hippokrates und beschreibt in wenigen Worten, was wir heute als Soziale Phobie bezeichnen. Was eine Soziale Phobie genau ist und was man selbst dagegen tun kann, liest du hier.

Wie erkenne ich eine soziale Phobie?

Beantworte die folgenden Fragen mit Ja oder Nein:

  • Verspüre ich eine starke und anhaltende Angst, wenn ich mich in sozialen Situationen (z.B. eine Veranstaltung, eine Party) befinde?
  • Habe ich Angst in Situationen, in denen meine Leistung auf dem Prüfstand steht (Prüfung, Bewerbungsgespräch)?
  • Habe ich Angst, mich zu blamieren, weil ich befürchte, ungeschickt oder unbeholfen zu sein?
  • Habe ich Angst, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, insbesondere mit Personen des anderen Geschlechts?
  • Befürchte ich, dass andere mich als ängstlich, schwach oder unfähig beurteilen?
  • Habe ich Angst, von anderen Menschen (Freunden, Kollegen, Vorgesetzten) abgelehnt zu werden?
  • Fällt es mir schwer, fremde Personen auf der Straße oder in Geschäften anzusprechen und nach etwas zu fragen?
  • Habe ich Angst, Forderungen zu stellen oder Forderungen anderer abzulehnen?
  • Befürchte ich, zu erröten, zu zittern oder einfach auf mein Gegenüber seltsam zu wirken?
  • Fühle ich mich durch die Angst in meinem privaten und/oder beruflichen Leben deutlich beeinträchtigt?

Wer mehr als die Hälfte der Fragen mit Ja beantwortet, könnte an einer „Sozialen Phobie“ leiden.

Soziale Phobie – was ist das?

Soziale Phobie – wörtlich bedeutet dies ein starkes Angstgefühl (Phobie) in Situationen des sozialen Kontakts. Zwar kennt fast jeder Mensch Nervosität und Ängste in bestimmten sozialen Situationen (z.B. ein Auftritt vor Publikum, Flirten), doch eine Soziale Phobie hat mit dieser „normalen“ sozialen Angst nichts zu tun. Bei einer Sozialen Phobie ist die Angst extrem gesteigert und sie tritt auch in Situationen auf, die andere als völlig harmlos empfinden. Es ist eine Angst, die nicht zu der Situation passt, die krankhaft und irrational ist und so das Leben der Betroffenen massiv beeinträchtigt.

Doch was ist der Grund für diese starke Angst? Sie resultiert aus der Befürchtung, von anderen Menschen aufgrund einer „Mangelhaftigkeit“ negativ beurteilt zu werden. Betroffene meinen, dass ihr Auftreten in der Öffentlichkeit – ihr Verhalten, ihr Äußeres, ja ihre ganze Person – als komisch, lächerlich oder peinlich angesehen werden könnte und andere sie deswegen ablehnen. Sie laufen ständig mit der Frage im Kopf herum, was andere wohl über sie denken könnten. Der Kern der Sozialen Phobie ist eine Beurteilungsangst.

Dabei ist die Bandbreite an sozialen Situationen, vor denen Menschen mit Sozialer Phobie sich fürchten, sehr weit gespannt und nicht jeder Betroffene fürchtet jede Situation gleichermaßen. Für die einen sind eher solche Situationen angsterregend, in denen sie beobachtet werden und im Zentrum der Aufmerksamkeit mehrerer anderer stehen, für andere sind es Kontaktsituationen, bei denen man mit anderen Menschen spricht oder sprechen sollte.

Einige Beispiele:

  • Essen und Trinken in der Öffentlichkeit
  • Schreiben oder sonstige Tätigkeit im Beisein anderer
  • durch einen voll besetzten Raum gehen oder einfach nur in der Mitte sitzen
  • einen Vortrag vor anderen halten
  • Telefonieren (wird manchmal sogar als Telefonphobie bezeichnet)
  • jemanden Fremden ansprechen und sich mit ihm unterhalten
  • jemanden begrüßen/verabschieden oder selbst begrüßt werden
  • sich in ein Gespräch einklinken
  • Reden mit einer Autoritätsperson oder einer Person des anderen Geschlechts
  • im Laden eine Beschwerde vorbringen
  • Besuch einer Veranstaltung, Feier, Party (mit Smalltalk)

Je nach Anzahl der betroffenen Situationen kann man eine leichtere und eine schwerere Form der Sozialen Phobie unterscheiden. Wer „nur“ Prüfungs- oder Redeangst hat, kommt leichter durchs Leben als jemand, der sämtliche soziale Kontakte scheut.

Emotionale Symptome: Angst und Scham

Die Ängste, die Menschen mit Sozialer Phobie erleben, haben wie gesagt mit Lampenfieber oder Aufgeregtheit nichts zu tun. Wer vor lauter Herzklopfen nicht mehr weitersprechen kann oder sich kurz vor dem Umkippen wähnt, leidet an einer krankhaften Angst. Diese kann sich sogar bis zu einer Panikattacke steigern. Neben dem Herzrasen sind starkes Zittern, Schwitzen und Erröten, Übelkeit, trockener Mund u.a. typische Symptome. Dabei tritt die Angst nicht erst in der Situation auf, sondern bereits im Vorfeld, in der Erwartung der befürchteten Situation (Erwartungsangst).

Neben den Angstgefühlen ist ein tiefes Schamgefühl ein Merkmal der Sozialen Phobie. Es zeigt sich in Gedanken wie „am liebsten im Erdboden zu versinken“ oder „sich dort nie wieder blicken lassen zu können“. Dieses Gefühl der Beschämung entsteht aus der Überzeugung des Betroffenen, versagt zu haben – was sich ziemlich destruktiv auf das Selbstvertrauen auswirkt. Bei keiner anderen Angststörung spielt die Scham eine so große Rolle. Das Schamgefühl verstärkt die Anstrengungen von Betroffenen, beim nächsten Mal unbedingt „alles richtig“ machen zu wollen, sich „sozial korrekt“ zu verhalten, zugleich aber steigt damit die Angst, erneut zu versagen. Die Scham verstärkt somit die Bewertungsangst – ein Teufelskreis.

In der Pubertät wurden die Ängste, abgelehnt zu werden, besonders schlimm. Zu dieser Zeit war jeder soziale Kontakt extrem schwierig. Ich hatte einmal einen Job in einem Büro und habe dort ununterbrochen auf alle Signale geachtet: Wer sagt was zu wem und warum? Wer tut was? Wer schaut mich wie oft an? Nach drei Stunden war ich fix und fertig. Ich musste mich ununterbrochen vergewissern, dass jemand anderes mich nicht in Frage stellte und das jeden Tag von neuem. Selbstverständlich schienen alle anderen Kollegen mehr wert zu sein als ich. Ich war damals kaum noch alltagstauglich.

Sandra

Gedankliche Symptome: Verzerrte Überzeugungen

Menschen mit Sozialer Phobie haben die Befürchtung, dass sie sich in sozialen Situationen ungeschickt, unangemessen, unnormal verhalten. Des weiteren fürchten sie, ihre äußere Erscheinung könnte negativ beurteilt werden, nicht weil sie glauben, an einer Entstellung zu leiden (das wäre eine Körperdysmorphe Störung), sondern weil sie sich als unattraktiv einschätzen und weil die sichtbaren äußerlichen Symptome der Angst und Scham, wie Zittern, Schwitzen, Erröten, von anderen als Schwäche angesehen werden könnten. Betroffene gehen davon aus, dass ihre Wahrnehmung („Ich zittere wie ein Hampelmann“) von anderen ebenso wahrgenommen wird, dass andere sehen, wie sie sich fühlen. Das ist aber fast niemals so – ein typischer Fall von verzerrter Selbstwahrnehmung, der in Selbsthilfegruppen immer wieder zu völliger Verblüffung der Betroffenen führt.

Letztlich steht hinter den Befürchtungen, dass das eigene Verhalten oder die eigene Erscheinung sozial unangemessen ist, ein verzerrtes Selbstbild. Menschen mit Sozialer Phobie nehmen an, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten seien unzureichend, sie erfüllen geforderte Standards der Gesellschaft nicht, sind als Person uninteressant und langweilig und haben daher im Gespräch nichts zu sagen. Manche Betroffene halten sich für so minderwertig, dass sie sich selbst das Recht absprechen, etwas zu tun, zu sagen oder gar zu fordern („Ich will niemanden belästigen.“). Im Zentrum stehen also Gedanken, die sich um die Nichterfüllung von Rollenanforderungen drehen. Ein Sozialphobiker läuft quasi ständig mit der Befürchtung herum, etwas falsch oder nicht gut genug zu machen und dafür von anderen schief angesehen zu werden.

Zwar mag es sein, dass so mancher Sozialphobiker aufgrund reduzierter sozialer Kontakte tatsächlich das eine oder andere soziale Defizit besitzt – aber wer hat schon das perfekte Auftreten? Entscheidend ist, dass Menschen mit sozialer Phobie ihre angeblichen Mängel als verzerrt und überwertig wahrnehmen. Sie leiden unter einer völligen Fehleinschätzung ihrer eigenen Person, haben starke Selbstzweifel und projizieren diese falschen Überzeugungen auf andere Menschen.

Die Angst, nicht gut genug zu sein, beschäftigt mich die ganze Zeit. So habe ich etwa das Problem, jemanden weniger gut Bekannten in meine Wohnung zu lassen. Denn die Wohnung ist ja ein Ausdruck deiner eigenen Persönlichkeit. Folglich habe ich Angst, die Wohnung könnte irgendwelchen Standards nicht genügen, könnte nicht sauber genug sein, nicht die „richtigen“ Möbel haben usw. Was ist, wenn der Besucher mein wahres Ich entdeckt, dasjenige das nichts taugt, nichts wert ist? Ich habe Angst davor, nicht richtig zu sein, eben nicht so, wie man sein sollte.

Sandra

Zahlen und Fakten

Die Soziale Phobie gehört zu den häufigsten Angststörungen. Innerhalb eines Jahres erkranken etwa 2% der Bevölkerung daran, innerhalb der gesamten Lebenszeit sind es über 12%. Frauen sind in etwa doppelt so oft betroffen wie Männer. Das gilt jedoch für alle Angststörungen und ist daher eher auf nach wie vor gültige Bilder von “Männlichkeit“ zurückzuführen: Männer haben keine Angst und wenn, zeigen sie es nicht.

Soziale Phobien beginnen meist in der Pubertät und der frühen Erwachsenenzeit und können ohne Behandlung ein Leben lang andauern. Durch Vermeiden angsterfüllter sozialer Situationen ziehen sich Betroffene immer mehr zurück und geraten in soziale Isolation. Das kann erhebliche Folgen im privaten wie im beruflichen Bereich haben, z.B. keine Bekannte oder keinen festen Partner zu haben, eine fehlende berufliche Karriere oder Arbeitsplatzverlust.

Menschen mit sozialer Phobie schöpfen ihr Potenzial nicht aus. Aufgrund dessen entstehen in nicht unerheblichem Ausmaß Folgekrankheiten. Etwa 60% der Betroffenen leiden unter einer weiteren psychische Störung, darunter sind Suchterkrankungen und Depression am häufigsten vertreten.

Die Soziale Phobie im Alltag

Eine Soziale Phobie kann sich im Alltag auf verschiedene Art und Weise zeigen. Einige typische Verhaltensweisen sind:

Vermeidung: Die heftige Angst in sozialen Situationen führt dazu, dass Betroffene solche Situationen soweit es geht vermeiden. Sie denken sich Ausreden aus, um bestimmte Dinge nicht tun zu müssen, und legen dabei durchaus große Kreativität an den Tag, um die Ausrede glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Perfektionismus: Da, wo Situationen nicht zu vermeiden sind, wie bei einem Vortrag, investieren Betroffene oft Stunden und Tage der Vorbereitung, um ja für alle auftretenden Eventualitäten gerüstet zu sein. Überhaupt sind Menschen mit Sozialer Phobie sehr oft Perfektionisten, die um jeden Preis Fehler oder auch nur Unzulänglichkeiten bei ihrer Arbeit vermeiden möchten, um ja nicht negativ beurteilt zu werden. Solcher Perfektionismus kann Züge einer Zwangsstörung annehmen, wenn Betroffene ihre Arbeit immer wieder auf Fehler kontrollieren oder immer wieder an Details feilen, weil sie meinen, dass es noch nicht gut genug sei. Das führt nicht selten dazu, dass eine Arbeit verspätet oder gar nicht fertig wird, was dann tatsächlich zu negativen Reaktionen bei anderen führen kann.

Grübeln: Menschen mit Sozialer Phobie grübeln im Vorfeld einer sozialen Situation ständig über Gefahren nach, die auftreten könnten, und überlegen sich mögliche Reaktionsmöglichkeiten. Im Nachhinein denken sie oft stunden- und tagelang darüber nach, was sie falsch gemacht haben oder was die anderen jetzt von ihnen denken könnten. Manche rekapitulieren ein Gespräch möglichst Wort für Wort, um zu analysieren, wie gut oder schlecht ihr Gesprächsanteil war.

Hypervigilanz: Hypervigilanz bedeutet eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber der Umwelt. Menschen mit Sozialer Phobie scannen ununterbrochen das soziale Umfeld, um kleinste Zeichen von Kritik zu erkennen. Ständig müssen sie sich vergewissern, dass die anderen sie nicht ablehnen. Dabei können völlig belanglose Dinge als Anzeichen von Abwertung interpretiert werden, z.B. „Als ich dies sagte, haben alle so komisch geschaut“.

Erhöhte Selbstaufmerksamkeit: Die Angst davor, etwas falsch zu machen, führt dazu, sich selbst ständig zu beobachten. Sozialphobiker beobachten ununterbrochen ihr eigenes Verhalten, ihre Sprache, ihre Gesten, um Zeichen für Fehler wahrzunehmen, aber auch ihre körperlichen Reaktionen (z.B. Zittern), die keinesfalls vom Gegenüber bemerkt werden sollen. Dieses ständige selbst beobachten hat zur Folge, dass die gesamte Aufmerksamkeit nach innen gerichtet wird, statt sich auf die Interaktion mit dem Gegenüber zu konzentrieren. Vor lauter Fokussierung auf sich selbst können sie einem Gespräch nicht aufmerksam folgen, überhören tatsächlich Dinge oder können sich den Namen des Gegenübers nicht merken. Die innere Anspannung blockiert jedes freie Denken und Sprechen. Ein spontaner Umgang mit anderen Menschen ist so nicht möglich, im Gegenteil wirken Sozialphobiker oft verkrampft und gehemmt, obwohl genau dies vermieden werden soll, um möglichst normal „rüberzukommen“.

Ursachen

Woher kommt nun dieses Gefühl von Mangelhaftigkeit? Die Ursachen einer Angststörung sind immer individuell und vielfältig. Hier daher nur einige Möglichkeiten

  • Traumatisches soziales Ereignis: Besonders bei einer eher speziellen Sozialen Phobie (z.B. Redeangst) kann ein einzelnes traumatisch empfundenes Ereignis die Ursache sein, etwa in der Schule bei einem Vortrag ausgelacht oder gemobbt worden zu sein, was zum Rückzug vor weiteren derartigen Situationen führt.
  • Lernen am Modell der Eltern: Waren schon die Eltern übertrieben ängstlich, saßen v.a. zu Hause, trafen sich kaum mit anderen Menschen, hatten Probleme, für sich einzutreten, ermahnten das Kind, „was die Nachbarn denken könnten“ u.a., dann übernehmen Kinder oft diese Verhaltensweisen, entwickeln Furcht vor sozialen Kontakten und bilden Defizite in der sozialen Interaktion aus (z.B. wie man Gespräche beginnt, wie man um Hilfe bittet).
  • Erziehungsstil: Eine Erziehung, die sehr rigide auf Einhaltung von Normen besteht, die die Bedürfnisse des Kindes übergeht und auf ein Funktionieren in seiner Rolle pocht, wird zu einer Grundüberzeugung führen, dass Fehler etwas Schlechtes sind und ein Abweichen von Rollenvorgaben unbedingt vermieden werden muss, um von anderen anerkannt zu werden.

Selbsthilfe – Was hilft mir, wenn ich unter sozialen Ängsten leide?

Der Gedanke, Angst in sozialen Situationen wird schon mit der Zeit von selbst vergehen, ist ein fataler Irrtum. Verbesserung kann es nur geben, wenn man sich der Angst stellt und ihre Auslöser verändert, etwa die problematische Selbstaufmerksamkeit oder die ständig unbewussten negativen Gedanken über sich. Einiges dazu kann man auch in Selbsthilfe machen. Mehr erfährst du hier im Abschnitt Selbsthilfe.