Agoraphobie –
Die Angst vor der Außenwelt

Ein Einkaufsbummel, mit der U-Bahn fahren oder ins Kino gehen? Nein danke! Menschen mit einer Agoraphobie meiden öffentliche Orte und Menschenmengen. Schon alltägliche Situationen, wie Einkaufen, können zu einer großen Herausforderung werden. Im Extremfall wird sogar das Verlassen der eigenen Wohnung zu einem Ding der Unmöglichkeit. Was Agoraphobie genau ist und was man selbst dagegen tun kann, liest du hier.

Wie erkenne ich eine Agoraphobie?

Beantworte die folgenden Fragen mit Ja oder Nein:

  • Verspüre ich eine starke und anhaltende Angst, wenn ich meine Wohnung verlasse?
  • Habe ich Angst, mich in öffentlichen Verkehrsmitteln (z.B. im Bus, S-Bahn, Straßenbahn) oder in einem Auto aufzuhalten?
  • Habe ich Angst vor vielen Menschen an einem Ort?
  • Habe ich Angst, mich auf öffentlichen Plätzen zu befinden ?
  • Befürchte ich, im Supermarkt in einer Schlange stehen zu müssen?
  • Befürchte ich, verrückt zu werden, hilflos zu sein?
  • Fühle ich mich durch die Angst in meinem privaten und/oder beruflichen Leben deutlich beeinträchtigt?
  • Habe ich Angst davor, Urlaub oder eine Reise zu machen oder einfach nur, mich weit von der eigenen Wohnung fortzubewegen?

Wer mehr als die Hälfte der Fragen mit Ja beantwortet, könnte an einer Agoraphobie leiden.

Agoraphobie – was ist das?

Agoraphobie bedeutet wörtlich eine starke Angst (Phobie) vor öffentlichen Plätzen (agora heißt auf griechisch großer Platz/ Versammlungsplatz). Die Übersetzung Platzangst ist aber irreführend, da die Betroffenen keine Angst vor einem Platz unter freiem Himmel haben, sondern vor jedem öffentlichen Ort, an dem sich auch andere Menschen aufhalten können, wie etwa ein Geschäft, eine Behörde, öffentliche Verkehrsmittel. Agoraphobie ist also eine Angst vor öffentlichen Orten.

Doch was ist so bedrohlich an diesen Orten? Die Angst der Betroffenen geht nicht von dem Ort, den äußeren Gegebenheiten an sich aus. Sie befürchten nicht eine Gefahr von außen (wie bei der Spezifischen Phobie), auch keine negative Beurteilung (wie bei einer Sozialen Phobie). Sondern es ist die Befürchtung, plötzlich massive körperliche Beschwerden zu erleiden: schwach und schwindelig zu werden, hinzustürzen, ohnmächtig umzufallen, zu erbrechen, zu ersticken, einen Herzanfall zu haben, verrückt zu werden oder gar zu sterben. Es ist die Angst, die Kontrolle über sich zu verlieren und in dieser Situation nicht flüchten zu können oder keine Hilfe zu bekommen, also allein, hilflos und ungeschützt zu sein. Im Zentrum der Agoraphobie steht die Angst, ohne Kontrolle über die Situation zu sein, sich hilflos den äußeren Umständen ausgeliefert zu fühlen.

Orte, die Agoraphobiker fürchten

Die Orte, die für Betroffene eine potenzielle Gefahr darstellen, und die sie deswegen möglichst vermeiden, sind ganz unterschiedlich. Das sind zum einen enge Räume, die ein Gefühl von Eingesperrtsein vermitteln: Zug, U-Bahn, Bus, Flugzeug, Aufzug. Aber auch Räume mit vielen Menschen sind unangenehm: Kaufhaus, Supermarkt, Wartezimmer, Veranstaltungen. Ebenso weite und abgelegene Orte, wo Hilfe schwer erreichbar wäre: großer Platz, breite Straße, lange Brücke, Wald, Berge.

Fast alle Agoraphobiker fürchten sich davor, in einem Geschäft Schlange stehen zu müssen, sie empfinden dabei ein Gefühl des Festgehaltenseins. Dasselbe gilt für Frisör, Zahnarzt, medizinische Untersuchungen. Im Restaurant oder Kino halten sie es nur aus, wenn sie einen Platz am Rand oder nahe am Ausgang haben. In jedem neuen Gebäude sondieren sie die Fluchtmöglichkeiten und –wege. Angstfördernd sind weite Entfernungen vom Ausgang wie hochgelegene Stockwerke oder unterirdische Bahnhöfe. Je weiter und höher die Räumlichkeiten und je weiter weg von zu Hause, desto ausgeprägter die Angst. Daher bereiten auch Reisen große Schwierigkeiten, bei denen man sich weit von der gewohnten Gegend entfernt.

Ich gehe aus dem Haus und zum Supermarkt. Ich habe Gleichgewichtsstörungen beim Gehen, alles sieht irgendwie „falsch“ aus und klingt anders. Wenn ich den Supermarkt erreiche, werden die Schwindelgefühle immer schlimmer, der Boden schwankt unter meinen Füßen. Vor meine Augen legt sich ein Schleier. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Meine Muskeln sind schwach und zittern. Ich bekomme Angst, die sich zur Panik steigert. Mein Herz beginnt zu flattern. Ich breche in Schweiß aus und bin am ganzen Körper heiß. Ich habe das Gefühl, ich kann nicht bleiben, wo ich bin. Ich muss nach draußen. Ich habe Angst, dass ich es nicht mehr bis nach Hause schaffe und vorher zusammenbreche. Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren, sehe mich zuckend auf dem Boden liegen, die Menschen weichen entsetzt zurück, keiner hilft mir.

Peter

Agoraphobie und Panik

Die Körpersymptome, die die Betroffenen befürchten, ähneln denen einer Panikattacke: Herzklopfen, Atemnot, Zittern, Schwindel, Schwitzen, Sehstörungen, Beklemmung, Übelkeit, Ohnmachtsgefühl. Viele Betroffene haben Angst, sie müssten sterben und konsultieren einen oder mehrere Ärzte. Doch wie bei Menschen mit Panikstörung sind die Betroffenen meist kerngesund.

Die Wissenschaft unterscheidet daher zwischen Agoraphobie mit Panikstörung und Agoraphobie ohne Panikstörung. Tatsächlich aber ist die letztere sehr selten. 95% aller Agoraphobien beginnen mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Panikattacke, die häufig nach einem belastenden Lebensereignis auftritt.

Die Folge: Die schreckliche Erfahrung einer als unkontrollierbar erlebten Angstattacke bzw. anderer körperlicher Beschwerden wollen die Betroffenen nie wieder erleben. Es entwickelt sich eine Angst vor dem erneuten Erleben dieses Zustands, eine Angst vor der Angst. Was also machen die Betroffenen? Sie meiden um jeden Preis die Orte, die einen solchen dramatischen Angstanfall auslösen könnten. Sie umgehen alle Räumlichkeiten, die ihnen gefährlich erscheinen, bleiben lieber in sicherer Umgebung. Da sie keine anderen Bewältigungsmöglichkeiten sehen, wird das ständige Vermeiden von gefürchteten Orten und Situationen zur vorherrschenden Reaktionsweise.

Agoraphobie – Vermeidung der Außenwelt

Statt in den Supermarkt gehen sie in den kleineren und näheren Laden um die Ecke. Statt mit dem Bus zu fahren, gehen sie lieber zu Fuß. Statt einen Spaziergang an der frischen Luft zu machen, bleiben sie lieber zu Hause – zur Sicherheit. Es ist klar, dass dieses Verhalten die Bewegungsmöglichkeiten stark einschränkt und das Sicherheitsdenken immer mehr und mehr Orte und Situationen in die Vermeidung einbezieht – „zur Sicherheit, man kann ja nie wissen“. Doch die Vermeidung vermindert zwar die Angst, verhindert aber auch die Erfahrung, dass die Situation in Wirklichkeit nicht gefährlich ist. So weitet sich die Agoraphobie auf immer mehr Situationen aus und der Lebensraum wird immer kleiner.

In ihrer schwersten Form sind die Betroffenen nicht mehr in der Lage, allein das Haus zu verlassen, weil ihnen „alles da draußen“ Angst macht. Agoraphobie ist daher die weitreichendste Form der Vermeidung, da – im Unterschied zu einer Spezifischen Phobie oder einer Sozialen Phobie – nicht einzelne Situationen, sondern die Außenwelt als Ganzes gemieden wird. Und selbst in den eigenen vier Wänden entwickeln manche eine generelle Angst vor dem Alleinsein und brauchen ständig andere Menschen als Sicherheitsspender um sich.

Alltagsbewältigung

Um ihre Angst vor der Angst im Griff zu behalten, entwickeln Menschen mit einer Agoraphobie ein raffiniertes System der Alltagsbewältigung. An erster Stelle steht die Begleitung durch Partner oder Freunde, die Sicherheit vermitteln. Mit allen möglichen Ausreden werden Bekannte immer in die eigene Wohnung geladen. Sitzplätze in Türnähe vermitteln das Gefühl, schnell fliehen zu können. Andere schwören auf Medikamente, die sie mit sich führen, aber oft gar nicht benutzen – Hauptsache, die Medizin ist griffbereit.

Als sehr hilfreich empfinden viele Agoraphobiker vertraute Gegenstände, die sie mitnehmen. Manche haben stets ein Fahrrad dabei oder benutzen einen Einkaufswagen, um sich daran festzuhalten. Auch den Regenschirm in der Hand oder den Hund an der Leine zu haben, mindern die Angst vor der Angst.

Agoraphobiker entwickeln (wie auch Panikpatienten) eine übertriebene Selbstbeobachtung: Sie messen ständig Puls und Blutdruck, lesen andauernd in medizinischen und psychologischen Büchern nach. Sie wollen Anzeichen eines Angstanfalls bzw. einer Krankheit frühzeitig entdecken. Doch tatsächlich schaffen sie damit nur noch mehr Angstgründe, überinterpretieren jede minimale Körpererscheinung gleich als gefährliche Bedrohung.

Aus Angst vor Herzrasen und Atemnot scheuen viele Agoraphobiker körperliche Anstrengung und Sport. Nur keinen Angstanfall riskieren, ist das Motto! Doch der Schongang birgt die Gefahr einer ungesunden Lebensführung mit tatsächlicher körperlicher Schwächung und Anfälligkeit. Verbreitet ist auch die Angst, Medikamente einzunehmen, da sie Nebenwirkungen fürchten, die einer Panikattacke ähneln.

In der Folge sind Agoraphobiker ausgelaugt und energielos, können sich kaum aufraffen, irgendetwas zu unternehmen. Sie machen ständig Pläne und werfen sie wieder über den Haufen, sagen Verabredungen zu und halten sie dann doch nicht ein. Agoraphobiker wenden einen erheblichen Teil ihrer Zeit und Energie dafür auf, ihr Hilfssystem aufrechtzuerhalten und mit Tricks und Techniken den Alltag durchzustehen. Doch die Angst vor der Angst ist ständig präsent und hindert sie selbst in anfallsfreien Zeiten daran zu entspannen. Sie trauen dem Frieden nicht, vermuten den Feind überall, sind ständig auf der Hut. Weil die Angstzustände nicht mehr zu bewältigen sind, verlieren sie ihr Selbstvertrauen, fühlen sich schwach, verrückt, abartig. Von da aus ist es nicht mehr weit zu einer Depression.

Ursachen

Manchmal beginnt eine Agoraphobie schleichend, oft jedoch steht am Anfang eine „traumatisierende“ Erfahrung: ein völlig unvorhergesehener Angstanfall oder ein anderes dramatisches körperliches Erlebnis, gepaart mit der Erfahrung von Hilflosigkeit und Kontrollverlust.

Hat jemand einmal eine solche Situation dramatischer Hilflosigkeit erlebt, befürchtet er, auch zukünftige Situationen nicht bewältigen zu können. Zu der emotionalen Erfahrung kommen katastrophisierende Gedanken wie „Ich könnte durchdrehen“, „Ich könnte zusammenbrechen und sterben“. Betroffene haben nicht nur Angst vor dem erneuten Auftreten bestimmter bedrohlicher Körpersymptome, sondern auch vor ihrer (scheinbaren) persönlichen Unfähigkeit, sinnvoll zu reagieren.

Agoraphobiker weisen oft einen abhängigen Persönlichkeitsstil auf, der sich schon in der Kindheit entwickelte. Es sind Menschen, die schon früh kaum passende Bewältigungsmöglichkeiten für Angstsituationen erlernt haben, weil schon die Eltern überängstlich waren und als „Modelle“ dieses Verhalten an die Kinder vermittelten. Diese früh erworbene Hilflosigkeit lässt die Betroffenen schnell passiv reagieren mit der Tendenz, sich nicht auf sich selbst zu verlassen, sondern sich an andere Menschen anzuklammern.

Selbsthilfe – Was kann ich selbst tun bei Agoraphobie?

Jeder kann selbst etwas gegen seine Angst tun, etwa mit Entspannungstechniken das Ansteigen der Angst abbremsen. Auch sollten Betroffene keinesfalls körperliche Aktivität vermeiden. Näheres dazu erfährst du hier unter Selbsthilfe.