Wie Angststörungen entstehen – Teil II:
Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Wie im vorherigen Text erläutert, kann jeder Mensch in den Teufelskreis der Angst geraten und eine Angststörung entwickeln. Allerdings gibt es Menschen, die schneller hineingeraten als andere und die die Angstreaktion schlechter unter Kontrolle haben. Sie haben ungünstigere Voraussetzungen, die Wissenschaft sagt, sie sind verwundbarer (vulnerabler).

Den Begriff „vulnerabel“ kann man mit „verletzlich“ oder „anfällig“ umschreiben: Jemand ist verletzlicher als andere, weil er in der Vergangenheit verletzt worden ist. Man kann sich eine psychische Verletzung wie eine physische vorstellen. Sie verheilt zwar, aber es bleibt eine Narbe, eine Schwachstelle, die unter Belastung schmerzt und schneller bricht.

Man kann sich den „Ausbruch“ einer Angsterkrankung als das Überschreiten einer Schwelle vorstellen, ab der die Angst von dem Betroffenen nicht mehr bewältigt und kontrolliert werden kann, also ein Kontrollverlust stattfindet. Die Schwelle wird erreicht und überschritten, wenn die Summe aller Belastungen das Verarbeitungsvermögen des Einzelnen übersteigt.

Dabei wird zwischen zwei Arten von Belastungen unterschieden:  

1. Die Belastungen, die jeder Mensch, egal ob angeboren oder erworben, mit sich herumträgt – das sind die Vulnerabilitäten, also die ungünstigen Voraussetzungen, die für eine bestimmte Erkrankung anfälliger machen.
Sie werden unterteilt in biologische (d.h. genetische), psychische (persönlichkeitsbezogene) und soziale (lebensgeschichtliche) Vulnerabilitäten (mehr dazu im dritten Text). Diese Vulnerabilitäten – Erbanlage, Persönlichkeit, Lebensumstände – sind die Ursachen dafür, dass manche Menschen schneller in den Angstkreislauf geraten als andere. Man nennt sie deshalb auch ursächliche Faktoren.

2. Die Vulnerabilitäten allein führen aber noch nicht zu einer Störung. Es muss ein aktuelles Stressereignis hinzukommen, das die Krise auslöst, die dann zur Störung wird. Man nennt solche Stressereignisse daher auslösende Faktoren. Das können einschneidende Lebensereignisse sein wie z.B. das Ende einer Partnerschaft, eine schwere Krankheit, der Tod eines geliebten Menschen. Oder auch gesellschaftliche Entwicklungen, die über den Einzelnen hereinbrechen wie aktuell die Corona-Pandemie. Sogar an sich positive Ereignisse wie ein neuer Job oder die Geburt eines Kindes können als belastend und überfordernd empfunden werden. Ebenso kann auch einfach nur Dauerstress durch Mehrfachbelastung oder durch zu viel Verantwortung im Beruf irgendwann eine Belastungsgrenze überschreiten und zur Erkrankung führen. Allgemein sind alle Phasen des Übergangs im Leben (Pubertät, mittleres Erwachsenenalter, Renteneintritt) oft Zeiten einer verstärkten Belastung, weshalb psychische Störungen oft in diesen Phasen auftreten.

Die Gesamtbelastung einer Person setzt sich also zusammen aus der Summe der Vulnerabilitäten plus dem aktuellen Stressereignis. Deshalb heißt das Modell Vulnerabilitäts-Stress-Modell, gelegentlich auch additives Vulnerabilitäts-Stress-Modell, weil beide Größen addiert werden. Überschreitet die Summe einen kritischen Schwellenwert, ist eine Anpassung des Individuums an die aktuelle Situation nicht mehr möglich und es kommt zu Krankheitssymptomen.

Wie man sieht, können die einzelnen Belastungen unterschiedlich groß sein. Eine Person mit niedriger Vulnerabilität kann mehr aktuellen Stress „verkraften“ als eine Person mit hoher Vulnerabilität, für die ein kleineres Ereignis ausreicht, um sie „aus der Bahn zu werfen“.

Gültig für alle psychischen Erkrankungen

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell gilt nicht nur für Angststörungen, es wird auch als Erklärung für die Entstehung anderer psychischer Störungen (z.B. Depression, Zwangserkrankung, Suchtverhalten) sowie für psychosomatische Erkrankungen (z.B. chronische Schmerzen, Reizmagen, Neurodermitis, Tinnitus, Essstörungen) verwendet. Alle diese Erkrankungen verlaufen prinzipiell nach demselben Modell: Am Anfang steht eine Belastungs- oder Stresssituation, auf die der Körper mit der Aktivierung der Stressreaktion antwortet. Kann der Betroffene mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Stresssituation nicht zügig auflösen, setzt eine Abwärtsspirale (Teufelskreis) aus negativen Gedanken (Befürchtungen, Zweifel), negativen Gefühlen (Hilflosigkeit, Ohnmacht) und Verhaltensweisen des Rückzugs und der Vermeidung ein, die sich gegenseitig verstärken und ohne Gegenmaßnahmen immer weiter „in den Abgrund“ führen.

Es hängt nun von den jeweils individuellen Vulnerabilitäten ab, welche psychische Störung aus der chronisch gewordenen Stressreaktion entsteht. Hat jemand eine „ängstliche“ Vorgeschichte, wird sich eher eine Angststörung entwickeln. Hat jemand dagegen schon viele Enttäuschungen und Verluste erlebt, entwickelt sich wohl eher eine Depression. Die Vorgeschichte (Vulnerabilität), besonders die Erfahrungen der Kindheit, entscheidet in starkem Maße über die Art der psychischen Störung.

Gesundheit und Krankheit

Ein weiterer Punkt wird an diesem Modell der Entstehung psychischer Erkrankungen klar: Es gibt keine scharfe Trennung von gesund und krank, sondern immer nur unterschiedliche Grade an Belastung zu unterschiedlichen Zeiten. Psychisch krank oder gesund sind nicht als Gegensatz zu betrachten, sondern als die zwei Pole eines Kontinuums, auf dem sich die Menschen hin und her bewegen. Wie jeder weiß: Es gibt bessere und es gibt schlechtere Zeiten. Und manchmal können sich die Belastungen so häufen, dass eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird, bis eine kritische Grenze erreicht ist. Wo genau dieser Umkipppunkt ist, kann von außen nicht festgestellt werden, sondern ist eine subjektive Einschätzung: Fühle ich mich noch in der Lage, meine Aufgaben, meinen Alltag zu bewältigen oder hat die Angst die Kontrolle über mein Leben übernommen.

Krankheit ist in diesem Modell also eine Summierung negativer Faktoren (vorhandene Vulnerabilität plus einwirkender Stress) bis zu einem kritischen Wert. Und einen solchen Wert hat jeder Mensch. Welche Faktoren sich dabei gegenseitig beeiflussen erfährst du im nächsten Teil. Grundsätzlich gilt: Eine psychische Störung kann jeden treffen.